Zirkuläres Modell


Martin Hämmerle, Hedwig Weiß

4. Zirkuläres Modell der Unterrichtsanalyse

Für eine möglichst objektive Analyse von Unterricht ist die Schaffung von Distanz von großer Wichtigkeit. Erst dadurch wird es möglich, befreit von Handlungsdruck objektive wissenschaftliche Theorien in die Analyse miteinzubeziehen und eine möglichst >b>gewinnbringende Reflexion durchzuführen.

Um diese notwendige Distanz bei der Fallanalyse zu erreichen, wurde von Martin Hämmerle und Hedwig Weiß ein Analysemodell entwickelt, das einerseits die sequentielle Abfolge von Arbeitsschritten und andererseits das Prinzip der Zirkularität abbildet, nach dem sich Analyse(teil)ergebnisse wechselseitig beeinflussen und im Arbeitsprozess Modifikationen erlauben.

Abb. 12 Analysemodell

4.1 Sichtung des Videos

Am Beginn steht die Sichtung des Videos, die bereits in Hinblick auf den Forschungsaspekt erfolgt.

Während der Sichtung können erste Informationen gesammelt bzw. das mögliche Forschungsinteresse eingegrenzt werden.

Es bietet sich an, in einer Tabelle mit Angabe des Timecodes interessante Stellen festzuhalten und kurz zu charakterisieren.

 

4.1.1 Beispiel - Sichtung des Videos

Sichtung des Videos mit Hilfe einer tabellarischen Ablaufbeschreibung (pdf-Druckversion). Referat „Thema Aufbau der Stunde – Vorstellung des Videos“ - Sandra Kainz, Anna Kühschelm.

 

4.2 Vorerfahrungen

Abb. 13 Vorerfahrungen

Abb. 14 Forschungsfrage

Bei der Betrachtung des Videos können Erinnerungen an subjektive Erfahrungen aus der persönlichen Biografie geweckt werden. Diese sollen in den Vorerfahrungen gesammelt werden. Sie bilden die Grundlage für die Subjektiven Theorien und können Ausgangspunkt für die Irritation dieser sein. Die festgehaltenen Erinnerungen können sowohl positiver als auch negativer Natur sein.

 

4.2.1 Beispiele Vorerfahrungen

Vorerfahrungen - Forschungsschwerpunkt "Körpersprache" - Franziska Steinmetz. (pdf)

Vorerfahrungen - Forschungsschwerpunkt "Unterrichts- einstieg" - Christian Weiß (pdf)

 

4.3 Forschungsfrage

Bei der Erstellung der Forschungsfrage wird das Analyseinteresse konkretisiert und der Forschungsaspekt stark eingegrenzt, sowohl inhaltlich als auch zeitliche durch Angabe eines oder mehrerer konkreter Timecodes.

Bei der Formulierung der Forschungsfrage ist die Erstellung einer präzisen Frage von großer Bedeutung, da diese es erlaubt, einem genau umrissenen Forschungsinteresse nachzugehen.

Im Zuge des Arbeitsprozesses kann es sich als sinnvoll erweisen, dass die Forschungsfrage modifiziert wird, sei es, dass sie enger gefasst werden muss, sei es, dass sich das Analyseinteresse etwas verschiebt.

 

4.3.1 Beispiele Forschungsfrage

Im Folgenden sind beispielhaft Forschungsfragen für Fallanalysen aufgelistet, die in den vergangenen Semestern im Rahmen der LV „Reflexions- und Handlungslernen“ von Projektgruppen á 3 – 4 Studierenden entlang des zirkulären Modells in einem arbeitsteiligen Verfahren bearbeitet wurden.

 

4.3.1.1 Erstellung der Forschungsfrage

Im folgenden Forumsbeitrag einer Studierenden wird deutlich, dass die Formulierung der Forschungsfrage der Logik des Arbeitsprozesses in der Forschungsgruppe unterliegt:

„Nach dem Anschauen des Videos sind uns einige interessante Aspekte aufgefallen, v.a. im Verhalten der Lehrerin. Diesen Aspekten wollen wir auch mit unserer Forschungsfrage etwas genauer nachgehen.

Obwohl uns mehrere verschiedene Stellen interessiert hätten, haben wir uns darauf geeinigt, dass die tatsächliche Gruppenarbeitsphase (TC 18:00-25:00) die meisten Anknüpfungspunkte bietet. Die Lehrerin ist ständig präsent: Sie geht von einer Gruppe zur nächsten, bringt Vorschläge ein, manchmal hört sie nur zu, gibt Ansatzpunkte für die Schüler/innen für weitere Diskussionsmöglichkeiten, ...

Wir haben uns jetzt dafür entschieden, folgende Sequenz zu analysieren: TC 19:20-24:50. Es können sich im weiteren Verlauf aber durchaus noch geringfügige Veränderungen ergeben.

Unsere vorläufige Forschungsfrage lautet wie folgt:

  • Welche Rollen nimmt die Lehrerin während der Gruppenarbeitsphase ein? Wann agiert sie eher aktiv, wann passiv? Inwiefern beeinflusst sie dadurch die Gruppenaktivitäten der Schüler/innen?

Auch hierbei können und werden sich sicherlich noch Änderungen ergeben."

N.N.

 

Ein Ausschnitt aus der Online-Korrespondenz zwischen Lehrveranstaltungsleiter u. Projektgruppe dokumentiert den Stellenwert der kollaborativen Arbeit an der Forschungsfrage als Beitrag zur Sensibilisierung von Beobachtungs- und Deutungsprozessen im Unterricht:

Leiter der LV: "Hallo Forschungsgruppe 3, fein, dass ihr anknüpfend an die Sichtung des Unterrichtsvideos die Formulierung der Forschungsfrage als gemeinsame Aufgabe versteht. Eure letzte Version lautet:

  • Wie gestaltet Fr. Prof. N.N. den Unterrichtseinstieg? Inwieweit gelingt es ihr, ihre Schüler/innen sowohl zu informieren als auch zu motivieren? (TC 02:20 – 06:20)

Was eure nun vorliegende Version der Forschungsfrage betrifft, möchte ich zu bedenken geben, dass die Frage nach der Motivation der Schüler/innen, nicht direkt über die Bearbeitung der Videodaten zu erschließen ist, sondern wir immer nur angesichts beobachtbarer verbaler u. nonverbaler Schüler/innenaktivitäten indirekt auf Motivation/Desinteresse schließen können. Dabei bewegen wir uns aber bereits auf der Deutungs- bzw. Interpretationsebene."

Koordinatorin d. Projektgruppe: "Wir haben jetzt die Forschungsfrage noch einmal überarbeitet und sind in der 4. Version zu folgender Formulierung gekommen:

  • Wie gestaltet Fr. Prof. N.N. den Unterrichtseinstieg? Welche Schüler/innenaktivitäten sind beobachtbar und ein Hinweis darauf, dass es ihr gelingt, die Schüler/innen zu informieren als auch zu motivieren?"

 

4.3.1.2 Forschungsfragen

  • Welche Interventionen setzt die Lehrerin während der Gruppenarbeit und wie wirken sich diese auf die Aktivitäten der Schüler/innen aus?
  • Die von uns gewählte Sequenz umfasst den Time-Code (TC) von 19:30 – 25:16.

  • Wie setzt die Lehrerin in der Gruppenarbeitsphase (TC von 18:40 – 22:60) das Lehrziel "Erziehung der Schüler/innen zu Eigenverantwortung und Selbständigkeit" um?
  • Im Verlauf des Unterrichtsgesprächs (TC 34:22 – 44:48) wollen wir in einer quantitativen Analyse der Frage nachgehen, ob eine Korrelation zwischen der Art der Lehrer/innenfrage und der Länge der Schüler/innenantworten auszumachen ist.
  • Ist in ausgewählten Sequenzen während der Gruppenarbeit (TC 19:26 – 20:31 und 22:24 – 22:58) auf der körpersprachlichen Ebene der Lehrerin/Schüler/innen-Interaktion eine wechselseitige Bedingtheit erkennbar?
  • Gibt es Anhaltspunkte, die die Aufmerksamkeit der Schüler/innen in Abhängigkeit zur Körpersprache der Lehrerin, insbesondere deren Stimme, erscheinen lassen.
  • Welche Typen von Fragestellungen setzt die Lehrerin während des Unterrichtsgesprächs (TC 35:22 – 42:07) ein und wie wirken sich diese auf die Schüler/innenbeiträge aus?
  • Welche Aktivitäten setzt die Lehrerin am Stundenbeginn (TC 00:00 – 05:20) und wie gestaltet sie den Übergang vom Stundenbegin zum Unterrichtseinstieg? (TC 05:20 – 07:38)
  • Welche literaturdidaktischen Ansätze liegen der analysierten Unterrichtseinheit zugrunde und wie erfolgt deren Umsetzung? Welche Kompetenzen der Schüler/innen sollen dadurch gefördert werden (Beforschung unter Einbeziehung der Kontextmaterialien)?

 

4.4 Theoriearbeit

Abb. 15 Theoriearbeit

Ein wesentliches Ziel der Analysearbeit ist die Verknüpfung von Theorie und Praxis.

In Hinblick auf die Forschungsfrage wird relevante, fallbezogene Literatur recherchiert. Anhand dieser selbst ausgewählten wissenschaftlichen Literatur wird das Theoriewissen vertieft und erweitert.

Eine Zusammenfassung des relevanten Theoriewissens gibt einen guten Überblick und ist für eine Gruppenarbeit sehr dienlich.

Das Theoriewissen bildet die Grundlage für die weitere Arbeit bei Beschreibung, Interpretation und Handlungsalternativen.

 

4.4.1 Beispiele Theoriearbeit

Planung und Durchführung von Gruppenarbeiten – Die Rolle des Lehrers (pdf), Forschungsschwerpunkt "Gruppenarbeit" - Isabel Kmen, Nicole Sommer

Theorie Gruppenarbeit (pdf) Forschungsschwerpunkt "Gruppenarbeit" - Johannes Falter, Hannah Grabher

Theoriearbeit Unterrichtseinstieg (pdf) Forschungsschwerpunkt "Unterrichtseinstieg" - Lisa Etmayr, Christian Weisz, Kerstin Bernecker, Sandra Hoflehner

Theorie Unterrichtseinstieg (pdf) Forschungsschwerpunkt "Unterrichtseinstieg" - Michaela Geier, Eva Mundprecht

Theorie Körpersprache (pdf) Forschungsschwerpunkt "Körpersprache" - Dino Limbeck

Theorie Körpersprache (pdf) Forschungsschwerpunkt "Körpersprache" - Elisabeth Halm

Zusammenfassung der Theoriearbeit  (pdf)     Forschungsschwerpunkt "Literaturdidaktik" - Sandra Kainz

Theorie Gesprächsführung und Fragetechnik (pdf) Forschungsschwerpunkt "Gesprächsführung und Fragetechnik" - Hermann Schwab, Gerald Stifter

Gesprächsführung und Fragetechnik (pdf) Forschungsschwerpunkt "Gesprächsführung und Fragetechnik" - Christina Schrett, Isabelle Steiner

 

4.5 Beschreibung

Abb. 16 Beschreibung

Abb. 17 Theoriegeleitete Interpretation

Für die weitere Fallarbeit ist es notwendig, die visuellen und auditiven Informationen des Unterrichtsvideos bzw. anderer Kontextinformationen in textuelle Form zu bringen (vgl. Herzig/Grafe/Reinhold). Sie werden dadurch in eine mit den anderen Materialien (subjektive und wissenschaftliche Theorien) vergleichbare Codierungsform gebracht.

Außerdem stellt die Umwandlung von Videodaten in Textform eine Abstraktion dar, die einen distanzierten Blick unterstützt, der für eine differenzierte Analyse notwendig ist.

Diese Umwandlung erfolgt in Form eines Transkripts, das sowohl verbale als auch nonverbale Aspekte des Videos festhalten kann.

 

4.6 Theoriegeleitete Interpretation

In der Interpretation soll das in der Theoriearbeit erworbene wissenschaftlich gesicherte Wissen auf die beobachteten Aktionen und Abläufe angewendet werden. Dadurch werden Theorie und Praxis miteinander in Beziehung gesetzt.

Durch diesen direkten Praxisbezug ist es möglich:

  • die verwendete Literatur zu reflektieren und ihre Relevanz bzw. Gültigkeit für den konkreten Fall zu bewerten
  • die handlungsbegründende Funktion von Theorie- und Expertenwissen zu illustrieren
  • die subjektiven Theorien zu überprüfen und weiterzuentwickeln

 

4.6.1 Beispiel Theoriegeleitete Interpretation

Literaturdidaktik (pdf) Forschungsschwerpunkt "Literaturdidaktik" - Anna Kühschelm

 

4.7 Handlungsalternativen

Abb. 18 Handlungsalternativen

Abb. 19 Beurteilung und Bewertung

Abb. 20 Metareflexion

Die Formulierung von theoriegeleiteten Handlungsalternativen hilft, das erworbene Theoriewissen auf konkrete Praxissituationen anzuwenden und in das bestehende eigene subjektiv-theoretische Wissen zu integrieren (vgl. Dann/Tennstädt/Humpert).

Dabei ist es nicht Aufgabe, "bessere" Handlungsalternativen zu entwickeln, sondern vor allem die möglichen Auswirkungen auf die Interaktion im Unterricht und die Lehr-/Lernziele zu überlegen.

Der Entwurf von Varianten möglichen Handelns fördert die methodische Kompetenz, erweitert das Handlungsrepertoire und stellt einen wichtigen Schritt der Professionalisierung dar.

 

4.7.1 Beispiele - Theoriegeleitete Handlungsalternativen

Theoriegeleitete Handlungsalternativen (pdf) Forschungsschwerpunkt "Fragetechnik"- Smeralda Agolli, Karl Marquardt

Handlungsalternative zum Unterrichtseinstieg (pdf) Forschungsschwerpunkt "Unterrichtseinstieg" - Christian Weisz, Lisa Etmayr, Kerstin Bernecker

 

4.8 Beurteilung und Bewertung

Auf Grundlage der vorangegangenen Analyseschritte ist es möglich, eine Bewertung und Beurteilung des beobachteten Unterrichtsgeschehens zu geben.

Durch die gezielte und bewussten Auseinandersetzung mit wissenschaftlichem Theoriewissen und subjektiven Theorien wird eine vorschnelle Beurteilung vermieden und eine möglichst gewinnbringende Reflexion angestrebt.

 

4.9 Meta-Reflexion über Analyseprozess und Lerngewinn

Den Abschluss der Analyseschritte bildet eine Meta-Reflexion, bei der dem persönlichen Lerngewinn, Relevanz und Nutzen für Hospitationen, Unterrichtsplanung, Studium und Beruf nachgegangen wird.

 

Abbildungsverzeichnis

  • Abb. 12 Analysemodell © Martin Hämmerle, Hedwig Weiß, Universität Wien
  • Abb. 13 Vorerfahrung © Martin Hämmerle, Hedwig Weiß, Universität Wien
  • Abb. 14 Forschungsfrage © Martin Hämmerle, Hedwig Weiß, Universität Wien
  • Abb. 15 Theoriearbeit © Martin Hämmerle, Hedwig Weiß, Universität Wien
  • Abb. 16 Beschreibung © Martin Hämmerle, Hedwig Weiß, Universität Wien
  • Abb. 17 Interpretation © Martin Hämmerle, Hedwig Weiß, Universität Wien
  • Abb. 18 Handlungsalternativen © Martin Hämmerle, Hedwig Weiß, Universität Wien
  • Abb. 19 Beurteilung © Martin Hämmerle, Hedwig Weiß, Universität Wien
  • Abb. 20 Metareflexion © Martin Hämmerle, Hedwig Weiß, Universität Wien