Die Fallanalyse


Martin Hämmerle, Hedwig Weiß

2. Die Fallanalyse

Die Tätigkeit einer Professionistin bzw. eines Professionisten ist die Arbeit mit Fällen. Aus dem Verständnis heraus, dass der Lehrberuf zu den Professionen zählt, ergibt sich die Fallanalyse als adäquates Mittel zur Professionalisierung, zur Bildung und (Weiter-)Entwicklung von Professionswissen und zur Einübung in die Vermittlung zwischen Theorie und Praxis mit den Zielen:

  • in der Praxis vorhanden subjektiven Theorien aufdecken
  • die für die konkrete Praxis und das Interesse der Beteiligten passende Theorie situations- und handlungsbezogen weiterentwickeln
  • Praxis durch Theorie begründen, Konsistenz von Theorie und Praxis überprüfen und alternative Praxis entwerfen

 

2.1 Aufdecken inhärenter Theorien

Abb. 2 inhärente Theorien aufdecken

Am Anfang steht eine explizite Aufklärung von Lehrerverhalten in der Schule, die die Gefahr der bloßen Reproduktion von Handlungsmustern in sich trägt. Dafür müssen die Subjektiven Theorien aufgedeckt werden, die dem eigenen Handeln zugrunde liegen, und ihre Überprüfung angeregt werden. Ein wichtiger Schritt ist dabei die "Irritation" eingespielter Sichtweisen auf Unterricht" (Fehlhaber, Garz, S. 66), die den Ausgangspunkt für Lernprozesse darstellt. Erst dadurch wird Selbstverständlichkeit durch Neu-Bewertung abgelöst.

 

2.1.1 Subjektive Theorien

Abb. 3 Theorien

Die Subjektiven Theorien können als unbewusst existierende Muster mit Argumentationsstruktur charakterisiert werden, die dem Handeln zugrunde liegen. Sie haben "handlungsleitende und handlungssteuernde Funktion" (vgl. Dann, Hanns-Dietrich) und können aber der handelnden Person bewusst zugänglich gemacht werden. Dadurch wird das "knowing how" des Erfahrungswissens in ein "knowing that" (vgl. Dewe, Ferchhoff, Radtke) der bewussten Subjektiven Theorien übergeführt.

Die Subjektiven Theorien können als individuelle Derivate von anderen Wissensformen verstanden werden und bilden die Grundlage für jedes unterrichtliche Handeln. Sie stellen die Verbindung zwischen Theorie und Praxis her, zwischen dem Theoriewissen und Handlungs- und Erfahrungswissen.

Für die Weiterentwicklung der Subjektiven Theorien hin zu einem adäquaten Professionswissen ist die dauernde Konfrontation mit diesen Wissensformen notwendig.

 

2.1.2 Adäquate Theorie für Praxis und Interessen

Die Durchführung einer Fallanalyse soll den Interessen der Forschenden entsprechen, weshalb die Fragestellung zum Fall aus den eigenen Erfahrungen und Interessen formuliert wird. Dadurch ist auch die Praxisrelevanz gegeben. Mit dem Einsatz von Fallanalysen soll durch die Verknüpfung von Theorie und Praxis die Reflexionskompetenz geschult und an eine theoriegeleitete, forschende Praxis herangeführt werden.

 

2.1.3 Begründbarkeit von Praxis, Konsistenzprüfung und Handlungsalternativen

Das In-Beziehung-Setzen von Theorie- und Handlungswissen im Zuge einer Fallanalyse hilft, die Entscheidungen in der Praxis auf ihre Angemessenheit und Begründbarkeit hin zu hinterfragen. Außerdem wird die Konsistenz der Theorie für die Praxis überprüft. Ein objektiv hermeneutisches Vorgehen bei der Analyse beinhaltet dabei zweierlei:

  1. die Rekonstruktion des Falles - "Was ist der Fall?"
  2. die Dekonstruktion des Falles - "Was ist der Fall nicht, aber was hätte er sein können?"

Dadurch öffnet sich der Blick für Handlungsalternativen und eine veränderbare Praxis.

Dabei stellt sich die Frage:

 

2.1.4 Was ist der Fall?

Jede menschliche Handlung unterliegt einer permanenten Evaluation durch handelnde und beobachtende Personen. Abhängig vom Ergebnis dieser Bewertung und von der Intention der Akteure ergibt sich die Reaktion bzw. die nachfolgende Aktion.

Dabei bietet sich eine Vielzahl von Möglichkeiten, im Moment zu agieren bzw. zu reagieren.

 

 

Abb. 4 Handlung - Evaluation - Reaktion(en)

Abb. 5 Was ist der Fall?

Folgende drei Falldefinitionen können formuliert werden:

  • Alles ist der Fall.
  • An jeder Stelle ist der Fall.
  • Das Auffällige ist der Fall.

 

2.1.4.1 Falldefinitionen

2.1.4.1.1 Alles ist der Fall

Dieser Falldefinition liegt das Verständnis zugrunde, dass das berufliche Handeln der Lehrperson per se als "Fall" verstanden werden kann (vgl. Ohlhaver; Wernet).

 

2.1.4.1.2 An jeder Stelle ist der Fall

In der Betrachtungsweise der objektiven Hermeneutik wird die Vielfalt der Handlungsmöglichkeiten hervorgestrichen und eine Sequenzanalyse durchgeführt. Darunter wird nicht eine zeitliche Abfolge von Aktionen betrachtet, sondern die Einzelhandlung als Ausgangspunkt von verschiedensten Handlungsmöglichkeiten (vgl. Oevermann, Ulrich)

 

2.1.4.1.3 Das Auffällige ist der Fall

Im Verständnis der Aktionsforschung wird diese Definition als Motiv für die Erforschung eigenen Unterrichts gesehen, die nach der Lösung eines Praxisproblem abzielt (vgl. Fatke, Reinhard; Altrichter; Posch).

 

LITERATUR

Altrichter, Herbert; Posch, Peter (2007). Lehrerinnen und Lehrer erforschen ihren Unterricht. Unterrichtsentwicklung und Unterrichtsevaluation durch Aktionsforschung. 4. Aufl..Bad Heilbrunn: Klinkhardt.

Dann, Hanns-Dietrich (1989). Subjektive Theorien als Basis erfolgreichen Handelns von Lehrkräften. Beiträge zur Lehrerbildung, 7(2), 247-254. (www.bzl-online.ch/archivdownload/artikel/BZL_1989_2_247-254.pdf (Zugriff 09.August 2008).

Dann, H.-D.; Tennstädt, K.-Ch.; Humpert, W.; Krause, F. ( 1987). Subjektive Theorien und erfolgreiches Handeln von Lehrern/-innen bei Unterrichtskonflikten. Unterrichtswissenschaft 15. S. 306-320.

Dewe, Bernd; Ferchhoff, Wilfried; Radtke, Frank-Olaf (1992). Das "Professionswissen" von Pädagogen. Ein wissenstheoretischer Rekonstruktionsversuch, in: dies. (Hg.): Erziehen als Profession, Zur Logik professionellen Handelns in pädagogischen Feldern, Opladen: Leske + Budrich, S. 70-91.

Fatke, Reinhard (1997). Fallstudien in der Erziehungswissenschaft. In: Handbuch – Qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft. Studienausgabe. Hrsg.: Friebertshäuser, Barbara; Prengel, Annedore. Weinheim, München: Juventa . S. 56 – 68.

Fehlhaber, Axel; Garz, Detlef (1999). Das nichtbefragte Lehren ist nicht lehrenswert - Analysen zum religionspädagogischen Habitus. In: Schulforschung - Fallanalyse - Lehrerbildung. Diskussionen am Fall. Hrsg: Ohlhaver, Frank; Wernet, Andreas. Opladen: Leske + Budrich, S. 159 - 177.

Herzig, Bardo; Grafe, Silke; Reinhold, Peter (2005. ). Reflexives Lernen mit digitalen Videos – zur Auseinandersetzung mit dem Theorie-Praxisverhältnis in der Lehrerausbildung. In: Nimm doch mal die Kamera!: zur Nutzung von Videos in der Lehrerbildung ; Beispiele und Empfehlungen aus den Naturwissenschaften/ Manuela Welzel ... (Hrsg.) . - Münster [u.a.]: Waxmann , S. 45 – 64.

Oevermann, Ulrich (2002). Klinische Soziologie auf der Basis der Methodologie der objektiven Hermeneutik - Manifest der objektiven hermeneutischen Sozialforschung. (https://www.ihsk.de/publikationen/Ulrich_Oevermann-Manifest_der_objektiv_hermeneutischen_Sozialforschung.pdf Zugriff 1. August 2023)

Ohlhaver, Frank; Wernet, Andreas (1999).Zwischen Pädagogik und Erziehungswissenschaft: Ansätze zur systematischen Begründung eines interpretativ-fallanalytischen Vorgehens in der Lehrerbildung. In: Schulforschung - Fallanalyse - Lehrerbildung. Diskussionen am Fall. Hrsg.: Ohlhaver, Frank; Wernet, Andreas. Opladen: Leske + Budrich, S. 11 - 28.

Otto, Gunter (1998). Lernen und Lehren zwischen Didaktik und Ästhetik.Seelze-Velber: Kallmeyer S. 251f.

 

 

Abbildungsverzeichnis

  • Abb. 2 inhärente Theorien © klaus edel, dgpb
  • Abb. 3 Denker Theorien © klaus edel, dgpb; Thomas Max Müller, www. pixelio.de; jimby, www. pixelio.de
  • Abb. 4 Handlung - Evaluation - Reaktion © Hedwig Weiß, Universität Wien
  • Abb. 5 Was ist der Fall? © günther gumhold, www.pixelio.de