Die Kino-Wochenschau und die Konstruktion der „österreichischen“ Identität"


Abb. 80 Serie "Jahrzehnte in Rot-Weiß-Rot"

Abb. 81 Signet "Österreich in Bild und Ton" (1933-1938)

Abb. 82 Signet "Austria Wochenschau" (1949 - 1982)

Alexander Sperl

Seit dem Jahr 2010 war zu beobachten, dass es in den Medien, allen voran im ORF, das Bestreben gab ein Österreichbild, wie es die Wiederaufbau- Nachkriegsgeneration geprägt hat, wiederaufleben zu lassen.(1) In Reportagen und Dokumentarfilmen wurden Ereignisse und Bilder gezeigt, die man für die Identitätsfindung und das Selbstbewusstsein Österreichs nach dem Zweiten Weltkrieg für prägend hielt. Das waren Sendungen wie „Österreich Box“ (2010), „Jahrzehnte in Rot- Weiß-Rot“ (2012), „Österreich II“ (als Neuauflage 2013) oder „Generation Österreich“ (2014). Durch diese sollte eine Erzählung vom Aufstieg Österreichs zur Nation vermittelt werden, die im Wesentlichen in den Jahren nach 1945 konstruiert wurde. (Blaschitz 2005, 40) Dieser visuelle Anteil am zu erschaffenden neuen Österreich-Bewusstsein ist jedoch auf einen relativ geschlossenen Bestand an Bildern angewiesen: die über 43.000 im Filmarchiv Austria (FAA) vorhandenen Wochenschaubeiträge aus den Jahren 1933–1994. (Austria-Wochenschau 1964–1973; Austria-Wochenschau 1974–1982; Wimmer 2004) 

Das filmische Format der Wochenschau, das sich zwischen Nachrichten- und Propagandasendung bewegt, ist besonders geeignet, das Medium Film in seiner Bedeutung als historische Primärquelle zu verdeutlichen. Politische Ereignisse sind hier unmittelbar Gegenstand der Darstellung. Gleichzeitig ist die Wochenschau auch ein Dokument allgemeiner kultureller und geistiger Zustände sowie politischer Rahmenbedingungen. Ab den 1930er- bis in die 1960er-Jahre war die Wochenschau fixer Bestandteil eines Kinobesuchs in Österreich. Neben der Wochenschau waren im Vorprogramm Reklame, Trailer, Trickfilme und Kulturfilme zu sehen. Dem Publikum diente die Wochenschau als Unterhaltung und zur Einstimmung auf den Hauptfilm, einen Spielfilm. Für die Auftraggeber/innen bildete sie ein Propagandainstrument zur Durchsetzung der eigenen Interessen. Nicht zuletzt waren mit der Herstellung von Wochenschauen auch kommerzielle Interessen verknüpft. Eine Interpretation der Wochenschauen muss neben dem Produktionszusammenhang den Kinokontext ebenso berücksichtigen wie die Bildlogik der Wochenschau. Die Wochenschau griff implizit auf andere Nachrichtenmedien wie Radio und Zeitungen zurück, ohne diesen Bezug explizit im Ton anzusprechen: Die Bilder der Wochenschau „positionierten sich in den je aktuellen, dem zeitgenössischen Publikum bekannten Bilderwelten, die durch Bild, Ton und Kommentar aufgerufen wurden.“ (vgl. Öhner 2002, 371)

Das Kino, als damals dominantes Massenmedium, trug nach dem Zweiten Weltkrieg ganz wesentlich zum Aufbau einer nationalen „österreichischen“ Identität bei. In den Spielfilmen verband sich die ‚Schönheit der Heimat‘ mit Lebensentwürfen und Normen, die als gesellschaftlich gewünschte Verhaltensweisen galten. (Steiner 1987) Das galt auch für die Wochenschau, Kinos brachte diese ja in der Regel vor den Spielfilmen. Auch im Zusammenhang mit der Darstellung politischer Ereignisse in diesen filmischen Erzeugnissen wurden vor allem die Alpen, die Donau, Weinberge und Felder als Naturkulisse; bzw. Schlösser, Burgen und Kirchen als Kulturkulisse für das ‚Markenzeichen Österreich‘ in Szene gesetzt. Auch für Staatsakte wurde die historische Kulisse von Schlössern gerne genutzt, wie beispielsweise beim Staatsvertrag 1955 das Belvedere; hier wurde die barocke Kulisse für die filmische Inszenierung optimal in Szene gesetzt. Diese naturnahen bzw. historisierten Bilder von Österreich waren auch in allen Printmedien weit verbreitet.

Mit Hilfe der Datenbank des FAA zu dem Bestand an Wochenschauen lässt sich eine grobe Zuordnung zu thematischen Schwerpunkten erstellen, die einen Überblick über das audiovisuelle Erbe der Republik geben können. Auffällig ist dabei das Übergewicht an Sportbeiträgen. Bedenkt man jedoch, wie wichtig der Sport für die nationalstaatliche Identitätsstiftung war und ist, hat es seine Logik. Auch ist der Sport auf Grund seiner ihm innewohnenden dynamischen Elemente Wettkampf, Konflikt oder Emotionen gut zur filmischen Darstellung geeignet. Politik, Kunst und Wirtschaft u.a. sind zwar die Hauptthemen in den Wochenschauen, doch nicht von dem Unterhaltungswert den das Kino offenbar braucht. Der Umstand, dass Wien als politisches, wirtschaftliches und kulturelles Zentrum der überwiegende Schauplatz der filmischen Beiträge ist, war auch bedingt durch die technischen Beschränkungen vor allem der frühen Filmtechnik. 

Abb. 83 Grafik 1 Die wichtigsten thematischen Schwerpunkte der Wochenschaubeiträge im FAA 1933-1994

 

Dieses Material mit seinen speziellen Eigenschaften ist heute wie damals Beschränkung und gleichzeitig die Grundlage für die Möglichkeit ein Österreichbild mit visuellen bzw. filmischen Mitteln erzeugen zu können. Für die „Wiederaufbaugeneration“, auch noch für die danach, die „68er“, scheint das weitgehend funktioniert zu haben. Die Produzent/innen von Filmen aus dieser Generation, ihnen gehören meist die zuständigen ORF Redakteurinnen und Redakteure und viele Filmemacher/innen an, scheinen dieses „klassische“ Österreichbild vor Augen zu haben.

Die Themenliste der Wochenschaubeiträge aus der Datenbank des FAA bestätigt diese Schwerpunktsetzung. In der Zeit von 1945 bis 1955 hat lediglich das Thema Sport in der „Austria Wochenschau“ noch mehr Einträge als die landschaftsbezogenen Beiträge. Die „Austria Wochenschau“, eine Art „filmische Illustrierte für politische und gesellschaftliche Aktualitäten“, die vor den Hauptfilmen in den Kinos gezeigt wurde, lässt sich in ihrer bewussten Österreich-Programmatik insbesondere in den fünfziger Jahren als „Austrovision“ bezeichnen (Petschar 1990. 24). Das zweite zentrale Themenfeld für das neu zu propagierende Österreichbild, Kunst und Kultur, begegnete erstmals im August 1945, als ein Beitrag über die Salzburger Festspiele von allen vier Radiosendern gemeinsam übertragen wurde. Zehn Jahre später wurde der Start des österreichischen Fernsehens mit der Übertragung der Neueröffnung der Wiener Staatsoper (1955) gekoppelt. (Blaschitz, 2005, 41). Kulturelle Aufführungen auf höchstem Niveau wurden damit als weiteres „Markenzeichen“ Österreichs weltweit eingeführt und seither erfolgreich vermarktet (vgl. auch die Wiener Philharmoniker mit dem Neujahrskonzert).

Abb. 84 Kaprun, Stausee Moserboden

Abb. 85 Olympische Winterspiele 1956 Cortina d´Ampezzo, Toni Sailer drei Goldmedaillen (Slalom, Riesenslalom, Abfahrt)

Die Darstellung von Wirtschaft, Technik und Fortschritt als identitätsstiftende Elemente war schon in den Wochenschauen der 1930er-Jahre beliebt. Nach 1945 wurden in den filmischen Medien besonders gerne Kraftwerke, Autobahnen und Industrieanlagen vor einer beeindruckenden Landschaft gezeigt. Neben und mit den Motiven Landschaft und Kunst wurden die technischen und wirtschaftlichen Errungenschaften der Nachkriegszeit zu ikonischen Bildern im Kino. Im Heimatfilm wie in den Wochenschauen war der „Wiederaufbau“ mit Darstellungen großer technischer Bauten, wie dem Kraftwerksprojekt in Kaprun, ständig präsent.

Der Sport schließlich, und hier vor allem der alpine Wintersport, verwendete als zentrales Mittel zur Stiftung einer österreichischen nationalen Identität quasi naturgegeben die Berglandschaft. Diese war es auch, die mehr noch als die Kunstdenkmäler Wiens als filmische Kulisse für das zu vermittelnde Heimatgefühl diente.

Im Folgenden wird Bezug genommen auf das vom Jubiläumsfonds der Österreichischen Nationalbank geförderte Projekt „Das Österreichbild in AV-Medien für den GSKPB-Unterricht und seine Repräsentanz bei AHS-Schüler/innen“ (2014−2017), dessen Ziel es war herauszufinden, inwieweit Österreichbilder der Nachkriegszeit für heutige Schüler/innen der AHS noch wirksam sind bzw. welche sie aktuell prägen. 

Die Wochenschaubeiträge im Spiegel heutiger Schüler/innen

Abb. 90 Befragung

Die Hauptbefragung der an zwölf Wiener bzw. Grazer Schulen 2016 stattgefundenen Untersuchung, sollte überprüfen, ob für Erwachsene noch signifikante Österreichbilder, die wie erwähnt vor allem in den Beiträgen der „Austria Wochenschau“ nach 1945 dargestellt wurden, für die heranwachsenden Schüler/innen in dieser Form noch präsent und von Bedeutung sind. Gestaltet war der Ablauf der Hauptbefragung dabei so, dass den Schülerinnen und Schülern 23 ausgewählte Beiträge in einer fortlaufenden Filmsequenz von insgesamt ca. 40-minütiger Länge ohne Ton gezeigt wurden. Die Sequenz wurde so gestaltet, dass die Schüler/innen nach jedem Beitrag etwa eine Minute Zeit hatten, die Fragen der Hauptbefragung zu beantworten, dann startete der nächste Film. Um die Relevanz und Bedeutung dieser „klassischen“ Österreichbilder zu ermitteln, umfassten die Fragen dabei die folgenden Punkte: Die Schüler/innen sollten angeben, ob sie erkennen, welches Ereignis in den Beiträgen dargestellt wurde. Für den Fall des Erkennens sollten sie das Ereignis mit einem Kurztitel thematisch benennen. Um diese Angaben weiter zu präzisieren, waren auch die zeitliche Einordnung des jeweiligen Ereignisses zu einem Jahrzehnt bzw. „vor 1940“ und „nach 2000“, sowie die räumliche Zuordnung zu einem Bundesland bzw. zur Auswahlmöglichkeit „Ausland“ gefragt.

Ebenso wurden die Schüler/innen aufgefordert, die Beiträge jeweils einem „Filmtypus“ (Dokumentation, Nachrichtenbeitrag, Reportage oder Spielfilm) zuzuordnen (vgl. unten: Medienaspekte) sowie eine Zuordnung zu einem der bereits aus einer Vorherhebung bekannten Themenfelder (Politik/ Wirtschaft/ Kultur/ Religion/ Sport/ Technik/ Umwelt) vorzunehmen. Des Weiteren sollten die Schüler/innen angeben, woher ihnen die gezeigten Ereignisse bekannt waren, mit folgenden Antwortmöglichkeiten: Kenne ich nicht, Familie, Fernsehen, Freunde, Internet, Literatur, Schulbuch und Zeitung.

Im letzten Fragenblock wurden die Schüler/innen gebeten, den Österreichbezug der jeweiligen Filmbeiträge einzuschätzen. Die Abfrage erfolgte dabei nach den vorgegebenen Kategorien „kein Bezug“, „mittel“ und „hoch“. Diesen formal vorgegebenen Antworten im Multiple-Choice-Verfahren wurde ein offenes Textfeld angegliedert, in welchem die Schüler/innen angeben sollten, woran sie den Bezug des gesehenen Films zu Österreich erkennen und festmachen würden. Ebenso sollten die Befragten auch noch schriftlich ausführen, welches Bild Österreichs in den ausgewählten Filmbeiträgen vermittelt wurde. Dieser Teil der Schüler/innenantworten wurde dann qualitativ ausgewertet.

Hier nun ein kurzer Überblick über die wichtigsten Ergebnisse der Untersuchung, womit ein Bild vom aktuellen filmischen Gedächtnis heute geben werden kann. Anhand der Befragung von Schülerinnen und Schülern im Alter von 15 oder 16 Jahren an zwölf Wiener und Grazer Schulen ergibt sich in der unten dargestellten Grafik, bewertet nach der Qualität der Antworten folgendes Bild:

Abb. 87 Grafik 2: Übersicht über die Zusammensetzung der befragten Schüler/innen

Wie kann man dieses Ergebnis deuten? Zusammengefasst lässt sich feststellen, dass einerseits aktuelle Themen, EU-Abstimmung, Flüchtlingskrise, Falco bzw. deren filmische Darstellung gut erkannt wurden, andererseits Themen, die in den traditionellen Bilderkanon, man könnte sagen zu den Österreich-Klischees − Staatsvertrag, Oper, Spanische Reitschule − gehören. Generell muss allerdings festgestellt werden, dass der klassische Bilderkanon, also Bilder von Ereignissen oder Personen, die das österreichische Fernsehen als typisch darstellt, kaum noch bekannt sind. Gerade vier Themen wurden von deutlich über der Hälfte der Befragten erkannt, fünf weitere von etwa der Hälfte. Der von offizieller Seite, den ORF Sendungen aber auch in Schulbüchern verwendete klassische Bilderkanon hat also, wenn man das Ergebnis aus diesen Klassen verallgemeinern will, nur noch eine geringe Bedeutung für die Schüler/innen.

Abb. 88 Grafik 3 Verteilung 0-4 richtige Antworten ("niedrig") bei der Hauptbefragung (90 SuS)

 

Abb. 89 Grafik 4 Verteilung 5-9 richtige Antworten ("mittel") bei der Hauptbefragung (144 SuS)

 

Abb. 90 Grafik 5 Verteilung 10-15 richtige Antworten ("hoch") bei der Hauptbefragung (67 SuS)

 

Analysiert man dieses Ergebnis im Detail, so lassen sich vier Gruppen unter den Befragten einteilen in: weiblich, männlich mit deutscher Muttersprache sowie weiblich und männlich nicht deutscher Muttersprache (= „ndE“). Versucht man diese Gruppen mit der Anzahl der „richtigen“ Antworten in Muttersprache (= „ndE“). Versucht man diese Gruppen mit der Anzahl der „richtigen“ Antworten in Beziehung zu setzen, (je nach Geschlecht und der Sprache der Eltern unterteilt in drei Niveaustufen) ergibt sich folgendes Bild:

Mit aller Vorsicht lassen sich hier zwei Tendenzen herauslesen. Einerseits kennen die Jugendlichen mit deutschsprachigen Eltern, also in der Regel geborene Österreicher/innen, das filmische Material besser als die Schüler/innen mit nicht deutschsprachigen Eltern, in der Regel Jugendliche mit Migrationshintergrund, ein Ergebnis das sicher zu erwarten war. Interessanter ist die zweite bemerkbare Tendenz, männliche deutschsprachige Jugendliche im Alter von 15 oder 16 Jahren erkennen das visuelle Material besser als die weiblichen deutschsprachigen Jugendlichen.

LITERATUR

Austria Wochenschau 1974–1982 (1982). Schlagwortkatalog zum Bestand im österreichischen Filmarchiv, erstellt von Peter M. Kraus, Österreichisches Filmarchiv, Kommunikations- und Medienforschung, Wien: Österreichische Gesellschaft für Filmwissenschaft.

Blaschitz, Edith (2005). Visual Nation Building: Visuelle Mythen und staatlich-pädagogische Maßnahmen zur österreichischen Identitätskonstruktion bei Kindern und Jugendlichen (1945–1955–2005). In: 1945–2005: Bedenkliches Gedenken. Zwischen Mythos und Geschichte. Schulheft 120/2005. Wien: Verlag Jugend und Volk. S. 40–59.

Ecker, Alois; Sperl, Alexander (Hrsg.) (2018). Österreichbilder von Jugendlichen. Zum Einfluss audiovisueller Medien, Wien: new academic press.

Hoffmann, Hilmar (1988). Und die Fahne führt uns in die Ewigkeit. Frankfurt a.M. 1988: Fischer;

Öhner, Vrääth (2002). Ausblende. Die Präsenz NS-Deutschlands, Italiens und Ungarns in der Österreich in Bild und Ton, In: Achenbach, Michael & Moser, Karin (Hrsg.), Österreich in Bild und Ton. Die Filmwochenschau des austrofaschistischen Ständestaates, Wien: Filmarchiv Austria, S. 369–380.

Petschar, Hans; Schmid, Georg (1990). Erinnerung & Vision. Die Legitimation Österreichs in Bildern. Eine semiohistorische Analyse der Austria Wochenschau 1949–1960. Mit einem Beitrag von Herbert Hayduck, Graz: Adeva.

Sperl, Alexander & Kragolnik, Florian (2018). Ergebnisse der empirischen Studie „Das aktuelle Österreichbild von 16 – 16-jährigen AHS Schülerinnen und Schülern“. In: Ecker, Alois & Sperl, Alexander (2018). Österreich-Bilder von Jugendlichen. Zum Einfluss von audiovisuellen Medien. Wien: new academic press, 95 – 125.

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