Versteckt unter dem Gras

Stacheldrahtreste, Tintenfläschchen, Schuhe und Uniformknöpfe. Bei Straßengrabungsarbeiten traten Spuren des größten Kriegsgefangenenlagers der ehemaligen „Ostmark“ zutage: STALAG XVII B Krems-Gneixendorf – das unsichtbare Lager.


Barbara Stelzl-Marx(32)

 

1. Das unsichtbare Lager

Abb. 40 Luftbild von STALAG XVIIB von einem amrikanischen Aufklärungsflugzeug

Vor 75 Jahren, am 26. Oktober 1939, entstand das größte Kriegsgefangenenlager in der damaligen „Ostmark“: das STALAG XVII B Krems-Gneixendorf. In Österreich auf den ersten Blick unsichtbar und weitestgehend vergessen, entwickelte es sich in den USA dank Billy Wilder zu dem Synonym für die Gefangenschaft im „Dritten Reich“. Jährlich begeben sich Angehörige auf eine Spurensuche in diesen idyllisch auf einem Hochplateau über der Donau gelegenen Stadtteil von Krems. Und stoßen auf einige Erinnerungstafeln und Gedenksteine an der Flughafenstraße, die zu einem kleinen Sportflugplatz am ehemaligen Lagerareal führt. Auch Stacheldrahtreste, Tintenfläschchen der Schreibstube, Schuhe oder Uniformknöpfe kommen bei genauerem Hinsehen zum Vorschein. Aktuelle Grabungsarbeiten für eine Straße bringen weitere materielle Spuren in großem Maßstab zutage und werden von Archäologen gesichert. Jahrzehntelang – gleichsam subkutan – unter der Grasnarbe verborgen, aber doch immer da. Wie bei so vielen NS Erinnerungsorten in Österreich, deren historische Dimension heute nicht mehr oder kaum erkennbar ist.

Rund einen Quadratkilometer umfasste das Gelände dieses Kriegsgefangenen-Mannschaftsstammlagers im Wehrkreis XVII, woher auch seine Bezeichnung stammt. Gegliedert in ein „Vorlager“ im Westen mit Büros für die Lagerführung, Ärzteunterkünften, Krankenrevier und Quarantänebaracken für Neuankömmlinge, ein Truppenlager für die Wachmannschaft, ein Lazarett und das eigentliche Lager für die Kriegsgefangenen. Gleich Rippen drängten sich die 40 Baracken an beide Seiten der Lagerstraße. Jeweils vier bildeten einen Sektor, vorgesehen für 400 Mann, in der Mitte durch einen Waschraum mit sechs Waschbecken unterteilt. Wachtürme und Stacheldraht umgaben das Areal. Wer den sogenannten Todesstreifen betrat, drohte erschossen zu werden. Die privilegierten US Amerikaner in Gneixendorf verwendeten den Zaun als Wäscheleine.

Je nach Kriegsverlauf trafen neue Gefangenenkontingente ein, per Bahn nach Krems und dann zu Fuß. Die ersten und zahlenmäßig mit Abstand immer größte Gruppe war jene der Franzosen, zunächst gefolgt von den Belgiern. Anfang Oktober 1941 wurde mit rund 66.500 im Stalag XVII B registrierten Personen der Höchststand erreicht, darunter über 40.000 Franzosen, 15.000 sogenannte Südostgefangene, 4500 Belgier, 2000 Polen, einige Briten. Die meisten waren in Arbeitskommandos außerhalb des Lagers untergebracht, wo sie einen wesentlichen Beitrag für den Erhalt der Kriegswirtschaft leisten mussten.

Abb. 41 Sowjetische Kriegsgefangene in Krems-Gneixendorf – an unterster Stelle der Lagerhierarchie

2. Ein Lager – zwei Systeme

2.1 Die Russen

Zu diesem Zeitpunkt, vier Monate nach dem Überfall auf die UdSSR, kamen auch erstmals sowjetische Kriegsgefangene nach Krems-Gneixendorf. Und machten die rassisch- ideologisch geprägte Hierarchie, ein Spezifikum der Gefangenschaft im „Dritten Reich“, besonders sichtbar. Als slawische „Untermenschen“ waren sie neben den Juden jene Opfergruppe, die im nationalsozialistischen Deutschland das schlimmste Schicksal erleiden sollte. Von 5,7 Millionen gefangenen Rotarmisten verstarben bis Kriegsende rund 3,3 Millionen, beinahe 60 Prozent. Auch in Krems-Gneixendorf lag ihre Todesrate ein Vielfaches über jener aller übrigen Nationalitäten. Mangelnde medizinische Versorgung, Seuchen und ihr schlechter körperlicher Zustand beim Eintreffen waren die Hauptursachen. Ein Lager – zwei Systeme: Sämtliche Bereiche des Lebens hinter Stacheldraht waren von dieser Gefangenenhierarchie geprägt. Es gab ein eigenes „Russenbrot“, das vorwiegend aus Sägemehl und Rübenschnitzel bestand und innerhalb kürzester Zeit Ruhr auslöste. Ihre Uniformen wurden mit „S.U.“ gekennzeichnet. „Skoro ubegu“ – „Bald werde ich fliehen“ dechiffrierten die gefangenen Rotarmisten selbst dieses Akronym. Starben sowjetische Kriegsgefangene, wurden sie „bei gleichzeitigem Anfall mehrerer Leichen“, in Papier gewickelt in einem Massengrab beigesetzt. Nicht von ungefähr erhielt der Waldfriedhof des Lagers bald die Bezeichnung „Russenwäudl“. 83 Prozent der im Totenbuch des Lagers zwischen 1943 und April 1945 verzeichneten Verstorbenen waren Sowjets. Wobei in diesem Zeitraum ihre Todesrate bereits stark zurückgegangen war.

 

2.2 Die Amerikaner

Abb. 42 STALAG 17 Cover der DVD

Eine Besonderheit von Krems-Gneixendorf war die Unterbringung von insgesamt rund 4000 amerikanischen Unteroffizieren der US-Airforce. Für sie entstand ein eigenes „Teillager der Luftwaffe“, das – wie auch der Sektor für die angrenzenden sowjetischen Gefangenen – vom übrigen multinationalen Lager abgetrennt war. Gemäß der Genfer Konvention von 1929 wurden die „Kriegies“ als Unteroffiziere nicht zum Arbeitseinsatz herangezogen. Um aus Langeweile keine Stacheldrahtpsychose zu entwickeln beziehungsweise wire happy zu werden, gründeten sie eine Lagerschule, richteten ein Theater ein, brachten eine Zeitung heraus, spielten Karten und veranstalteten sportliche Wettkämpfe. Kunst und Kultur dienten somit nicht nur zur Erhaltung der moralischen und intellektuellen Integrität, sondern stellten auch eine individuelle und kollektive Überlebensstrategie dar. Ihnen kam die Funktion einer Sinnstiftung in dieser häufig als verloren empfundenen Zeit hinter Stacheldraht zu. „Four thousand men with broken wings – tired, wounded, crippled things“ charakterisiert somit auch ein Gedicht die Mitgefangenen mit ihren „gebrochenen Flügeln“. In diesem Umfeld einer regen Theatertätigkeit kamen nicht nur Komödien und Musicals zur Aufführung, sondern es entstand auch ein eigenes Drama, das das Leben im Lager selbst zum Inhalt hatte: „Stalag 17“. Don Bevan und Edmund Trzcinski arbeiteten die Grundidee dafür eines Nachts aus, als sie zu lange in der Theaterbaracke geblieben waren und nicht mehr in ihre Baracke zurückkehren konnten. Sie entschlossen sich, eine Komödie zu schreiben, die „natürlich etwas mit Fluchtversuchen“ zu tun haben müsste und das Leben im amerikanischen Sektor des Lagers charakterisieren sollte. Die Hauptcharaktere konnten sie täglich in ihrem direkten Umfeld beobachten und als Vorlage für die Protagonisten verwenden.

Am 8. Mai 1951, genau sechs Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, wurde das Stück erstmals am Broadway aufgeführt. Trotz der außergewöhnlichen Themenwahl entwickelte sich die Produktion zu einem großen Erfolg, die insgesamt zweieinhalb Jahre am Broadway laufen sollte. Billy Wilder besuchte eine der Aufführungen und entschloss sich, das Stück zu verfilmen. Den 1933 in die USA emigrierten Regisseur faszinierte die eigenartige Mischung aus Witz und Intrige, eingebettet in die Extremsituation der Gefangenschaft. Bezeichnenderweise fand sich zunächst kein Studio, das sich für die in einer reinen Männerwelt spielende Lagerkomödie interessiert hätte. Erst auf Wilders Drängen kaufte Paramount Pictures Corporation 1952 die Rechte – und fuhr damit einen Welterfolg ein. Der Film, für den William Holden als Hauptdarsteller einen Oscar erhielt, spielte im ersten Jahr zehn Millionen US-Dollar ein.

„Stalag 17“ war nicht nur einer der ersten amerikanischen Spielfilme, die das Thema Kriegsgefangenschaft aufgriffen, diese barbwire comedy sollte zudem zahlreiche nachfolgende Filme maßgeblich prägen – angefangen von „The Great Escape“ unter der Regie von John Sturges aus dem Jahre 1963 über „The Bridge on the River Kwai“ oder „King Rat“ bis hin zum in den 1990er-Jahren gedrehten populären Trickfilm „Chicken Run“. Die Fernsehserie „Hogan’s Heroes“ beziehungsweise „Ein Käfig voller Helden“ mit insgesamt 168 Folgen ähnelte „Stalag 17“ so sehr, dass es zu einem Plagiatsprozess kam – den Don Bevan und Edmund Trzcinski schließlich gewannen.

Ähnlich wie „Sound of Music“ ist „Stalag 17“ in den USA bis heute ein beliebter Klassiker, den man in Österreich allerdings kaum kennt. Als 1995 ehemalige amerikanische Kriegsgefangene und ihre Familienmitglieder den Gedenkstein „We did return“ in Gneixendorf errichteten, kombinierten sie eine „Sound of Music Tour“ mit der Spurensuche ihrer Gefangenschaft. Neben Krems und Salzburg stellte dabei Braunau beziehungsweise der nahe gelegene Weilhartsforst eine Station dar, denn dorthin waren alle gehfähigen Kriegsgefangenen des Lagers im April 1945 vor der vorrückenden Roten Armee evakuiert und am 3. Mai 1945 von US-Truppen befreit worden.

 

3. „Alle waren froh, dass es weg war“

Abb. 43 April 1945, Das Lager nach der Evakuierung der marschfähigen Kriegsgefangenen

Die Befreiung des Stalag XVII B Krems-Gneixendorf selbst erfolgte am 9. Mai durch die 2. Ukrainische Front der Roten Armee. Die verbliebenen Gefangenen verließen darauf hin das Lager und traten in den meisten Fällen den Weg in Richtung Heimat an. Die Baracken dienten zunächst sowjetischen Besatzungssoldaten als Unterkunft, bis die Reste des Lagers 1946/47 niedergerissen wurden. „Alle waren froh, dass es weg war“, erinnert sich ein ehemaliger Wachsoldat. Die Einheimischen konnten Holz und Ziegel um einen Spottpreis kaufen. Man brauchte nur ein Fuhrwerk, um das in der Nachkriegszeit als Mangelware geltende Baumaterial abholen zu können. Bis heute befinden sich Gebäude in der näheren Umgebung, die mit Ziegeln oder Holzplanken aus dem ehemaligen Stalag gebaut oder repariert wurden. Die umfangreiche Telefonanlage fand Weiterverwendung in der Schuhfabrik Rehberg.

Für die sowjetischen Kriegsgefangenen, von Stalin bereits 1941 als „Vaterlandsverräter“ und „Deserteure“ gebrandmarkt, bedeutete jedoch die Heimkehr den Beginn einer jahrzehntelangen Diskriminierung, die vielfach harte Repressionen beinhaltete. Den Befreiten wurde jedoch zunächst vorgespielt, dass sie straffrei bleiben würden. „Die Heimat hat verziehen! Die Heimat ruft euch!“, lockten Zeitungen, Plakate und andere Medien. Mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln versuchte eine eigens bei der Repatriierungsverwaltung eingerichtete Propagandaabteilung, „jeden Sowjetbürger bis zum letzten“ zu einer Rückkehr in die UdSSR zu bewegen. Alexander Solschenizyn nennt diese Täuschung den dritten Verrat, der an Soldaten der Roten Armee begangen wurde. Erst in den 1990er-Jahren fand eine vollständige Rehabilitierung dieser „Opfer zweier Diktaturen“ statt.

Abb. 49 Gedenkstein an der Flugplatzzufahrt

Heute ist wahrscheinlich den wenigsten Pendlern, die von Zwettl oder Langenlois über die Schnellstraße B37 in Richtung Krems fahren, bewusst, dass sie durch ein ehemaliges Kriegsgefangenenlager hindurchfahren. Dem Stalag XVII B Krems-Gneixendorf und anderen Einrichtungen aus dem Zweiten Weltkrieg, die zumindest auf den ersten Blick unsichtbar geworden sind, widmet sich Ende November eine wissenschaftliche Konferenz in Sankt Pölten. Schließlich stellten Lager das Signum des Nationalsozialismus dar.

dgpb © Barbara Stelzl-Marx