1. Politische Festkultur


Alois Ecker

1.1 Kulturhistorische Betrachtungen zum Fest der Arbeit

Quoi! Ne faut il donc aucun spectacle dans une République? Au contraire, il en faut beaucoup. C’est dans les Républiques qu’ils sont nés, c’est dans leur sein qu’on les voit briller avec un véritable air de fête.

Jean-Jacques Rousseau à M. d’Alembert, 1758(1)

Feste werden zu unterschiedlichsten Anlässen gefeiert: In den ersten Monaten des Jahreszyklus können wir z.B. im interkulturellen Vergleich ein buntes Spektrum von religiösen Festen erschließen:(2)

  • Die Muslime feiern in diesem Jahr bereits Anfang Februar das Geburtsfest des Propheten Mohammed ‚Mawlid-an-Nabi‘ (Mevlid).
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  • Im jüdischen Festkalender wird heuer im April das wichtigste religiöse Fest das Pessachfest gefeiert. Es erinnert an den Auszug der Juden aus Ägypten (Opferlamm; Mazzes) und gilt als das große jüdische Familienfest.
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  • Die Christen gedenken nach der vierzigtägigen Fastenzeit in einem großen Festzyklus, dem Osterfest, des Todes und der Auferstehung ihres Religionsgründers, Jesus Christus.
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  • Die Bahai feiern Ende April/Anfang Mai ihr größtes Fest, das Ridvanfest, welches an die Verkündigungen des Religionsstifters ‚Baha’u’llah‘ im Garten Ridvan (bei Bagdad, 1863) erinnert.
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Feste werden aber nicht nur zu religiösen Anlässen gefeiert: Seit es Nationalstaaten gibt, werden die nationalen Feiertage mit ähnlich großem Aufwand begangen wie die großen religiösen Feste. Auch sie gelten in der Regel als schul- und arbeitsfreie Tage.

  • Am 15. März wird beispielsweise in unserem östlichen Nachbarland Ungarn der Nationalfeiertag begangen – er soll an den Beginn der Märzrevolution 1848 erinnern und betont damit (im Gegensatz zur internationalen Ausrichtung der Feiertage zur Zeit des kommunistischen Regimes) seit 1989 wiederum den Schritt zur Nationalstaatlichkeit.

Abb. 8 Der am Saint Patrick´s day traditionell grün gefärbte Chicago River

Abb. 9 Feiern Tag des Sieges zum 9.Mai 2015 (70 Jahre) am Roten Platz

  • In Irland wird am 17. März der St. Patrick’s Day gefeiert – er gilt als Todestag eines der ersten irischen Missionare (5. Jh.), Patrick von Irland, der zum Nationalheiligen erkoren wurde und heute weltweit von den Iren mit großen Feiern bedacht wird.
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  • Der 25. März ist in Griechenland Nattionalfeiertag – er erinnert an den Beginn des Unabhängigkeitskrieges gegen das Osmanische Reich 1821.
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  • Zahlreiche Nationalfeiertage gedenken der Unabhängigkeit vonden Kolonialmächten, z.B. Senegal (4.4.1960), Syrien (17.4.1956), Togo (27.4.1960) der Unabhängigkeit von Frankreich, andere der erfolgreichen Beendigung von Diktaturen, z.B. der ‚Nelkenrevolution‘ in Portugal (25.4.1974).
  • Anfang Mai wird in vielen europäischen Ländern der Kapitulation der deutschen Wehrmacht bzw. des Endes der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft gedacht (25.4. Italien, 5.5. Niederlande, 8.5. Tschechien, 9.5. Russland).
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  • Und schließlich werden in dieser Zeit auch zwei europäischeGedenktage gefeiert: Am 5. Mai wird der Gründung des Europarates (1949) gedacht, am 9. Mai der Gründung der Produktionsgemeinschaft für Kohle und Stahl [EGKS] (sog. Schumann-Erklärung 1950), aus der dann die Montanunion als Vorläuferin der heutigen Europäischen Union hervorging.

Zwischen all diesen religiösen, nationalen und übernationalen Festen wird am 1. Mai der Tag der Arbeit gefeiert. Er ist nicht nur in Österreich ein staatlicher Feiertag. In den meisten Ländern Europas, aber ebenso in Mexiko, Brasilien, in der Volksrepublik China, in Russland, der Türkei und in Südafrika wird der 1. Mai als „Tag der Arbeit“ gefeiert.(3)

Die Feiern zum Tag der Arbeit zeichnen sich durch einige Besonderheiten aus: Es gibt wenig andere Feiertage, dieweltweit in ähnlicher Intensität gefeiert werden. Auf Google finden sich derzeit (Zugriff: 11.März 2012) ca. 2.030.000 Einträge zur Wortgruppe „Tag der Arbeit“. Der Tag der Arbeit ist kein religiöses Fest und er ist, wenngleich vielerorts als staatlicher Feiertag freigegeben, kein nationales Fest, sondern ein internationaler Feiertag. Am ehesten können wir ihn in die Reihe der politischen Festtage einreihen.

Feste werden also zu unterschiedlichen Anlässen gefeiert: Es gibt religiöse Feste, es gibt staatlich verordnete Feste, es gibt private Feste, es gibt betriebliche Feste und es gibt politische Feste. Die vielfältigen Kontexte, in denen Feste stattfinden, laden ein, sich systematischer mit dem Fest und seinen variablen Funktionen auseinanderzusetzen. Dem Schwerpunkt des Themenheftes entsprechend steht der Begriff des politischen Festes im Vordergrund dieses Artikels. Gefragt wird zunächst nach der Struktur sowie nach dem sozialen und kulturellen Sinn der vielfältigen Inszenierungen von politischer Festkultur.

1.2 Feste: Strukturen, Funktionen, Begriffsdifferenzierung

Gemeinsam ist allen festlichen Ereignissen, dass sie aus dem Lebensalltag herausgehoben und für die feiernden Personen nicht mit Arbeit verbunden sind.(4) Max Weber (1864–1920), einer der Begründer der modernen Soziologie in Deutschland, verstand unter dem Begriff „Fest“ ein vom Alltag und von der Arbeit abgehobenes, soziales oder kulturelles Ereignis. Charakteristisch für Feste sei, dass sie die beteiligten Menschen den Zwängen der Arbeitswelt entheben und dass sie in einer Form kulturellen Erinnerns innerhalb sozialer oder religiöser Gruppen zur Entwicklung oder Stärkung von kollektiver Identität beitragen.

Etymologisch wird der Begriff „Fest“ vom lateinischen „festum“ abgeleitet, das das Feiern in bestimmten Zeitrhythmen oder Zeitabschnitten bezeichnet. Für die römische Gesellschaft war charakteristisch, dass an den Festtagen nicht nur die handwerkliche Arbeit, sondern auch der Handel und die Rechtsprechung ruhten. (Maurer 2004, 24) Eine weitere Bedeutung des Wortes „Fest“ kommt vom hebräischen „moed“, dem Zeitpunkt, der für eine Begegnung mit Gott reserviert ist.

Abb. 10 Festessen

Der Heidelberger Kultur- und Religionswissenschafter Jan Assmann verwies in seiner Analyse von Festen (Assmann 1991) auf ethnologische Forschungen, welche das Fest als eine Sphäre der Inszenierung (Theater, Gesang), der Fülle (an Speisen, Getränken, sinnlich-körperlicher Erfahrung) und der Emotionalität charakterisieren. Feste erzeugen eine emotionale Aufladung und bringen häufig Erlebnisse einer gesteigerten Körpererfahrung (Freude, Begeisterung, Anteilnahme, Trauer, Sexualität, Rausch, Kampf, Lachen, Schmerzen, Weinen, Berühren, Trost, Glück …). Auch Assmann setzte diese Merkmale von Festen in einen Kontrast zum Alltag, welchen er als die Sphäre des Zufalls, des Mangels und der Routine verstand.

Schon vor ihm hatte der französische Soziologe Emil Durkheim (1858–1917) das Fest als „heiliges Delirium“ beschrieben, welches den auf Vernunft und Reglementierung aufgebauten Alltag mit seiner „sur-réalité“ unterbrach. Feste tendierten in ihren frühen Formen auf das Urchaos hin, sie beschworen die mythischen Ursprünge der Welt und hoben für die Dauer des Festes nicht nur die bestehende soziale, sondern auch die wirtschaftliche Ordnung auf. Sein Neffe, Marcel Mauss (1872–1950), der sich unter anderem mit den Festen der Naturvölker beschäftigte, gab der bei Festen zu beobachtenden Umverteilung zwischen den im Dorf lebenden reicheren und ärmeren Familien und der dabei beobachteten Verschwendung und Zerstörung des wirtschaftlichen „Reichtums“ einen neuen Sinn: Die scheinbar sinnlose Verschwendung im Fest wurde als Abbild des Kosmos gedeutet, der pausenlos aufbaut und zerstört, zeugt und vernichtet. (Mauss 1968)

Abb. 11 religiöse Symbole

Den Festen wird aber nicht nur rauschhaftes, sinnliches und kosmisches Erleben zugeschrieben, sie haben auch eine ordnende Funktion: Durch genau festgelegte Festabläufe, Rituale und Zeremonien schützen die Festveranstaltungen vor dem Chaos der (inneren oder äußeren) Welt. Die bei Festen verwendeten Symbole (Religions-, Partei- und Vereinssymbole, Kreuze, Fahnen, Wimpeln, Wappen etc.) werden während des Festgeschehens in einen für die jeweilige Gemeinschaft relevanten Sinnzusammenhang gestellt. Die Erneuerung und Deutung von politischen, sozialen oder kulturellen Werten ist häufig ein wichtiger Teil des Festgeschehens.

Diesen strukturellen und scheinbar überzeitlichen Definitionen des Begriffs „Fest“ stehen historische Betrachtungen gegenüber. (Düding 1988; Troch 1991; Rásky 1992; Schultz 1988; Warstat 2005) Seitdem sich die Geschichtswissenschaft nicht mehr vorrangig mit Herrschaftsstrukturen und Politik befasst, werden auch Phänomene des Alltags, wie z.B. Feste, in historischer Perspektive erschlossen. Solche kulturhistorischen Betrachtungen können z.B. den Wandel von Festtypen und Festkulturen betonen: Im Langzeitvergleich haben ähnliche Festtypen nicht nur ihr äußeres Erscheinungsbild verändert, auch Funktionen und Bedeutungen einzelner Feste für eine bestimmte Gesellschaft können sich verändern oder gänzlich verloren gehen.

Kultur wird dabei seit der Aufklärung in einen Gegensatz zur vorhandenen „Natur“ gestellt und allgemein als die Summe aller Leistungen verstanden, welche der Mensch gestaltend hervorgebracht hat und in Gegenwart und Zukunft hervorbringt bzw. hervorbringen wird. Im Verlauf des 20. Jh.s hat sich weltweit ein Kulturbegriff durchgesetzt, der insbesondere die bedeutungsgebende Rolle der Menschen als ihre kulturelle Leistung in den Mittelpunkt rückt. Die Bedeutungsgebung über Sprache (Max Weber, Ferdinand de Saussure), über Symbole und Interaktion (Kultur als Text: Clifford Geertz) bzw. über Verhalten und Handeln (Habitus: Pierre Bourdieu) nehmen in der jüngeren kulturwissenschaftlichen Diskussion eine zentrale Rolle ein.

Eine kulturgeschichtliche Betrachtung von Festen kann in diesem Sinne dazu beitragen, nicht nur den ästhetischen Wandel von Festen und ihre Formenvielfalt, sondern insbesondere ihren Bedeutungs- und Funktionswandel bzw. ihre Kodierung in verschiedenen kulturellen Zusammenhängen zu erhellen.

Eine kulturgeschichtliche Betrachtung von politischen Festen kommt nicht ohne den Bezug zur langen Geschichte kultischer und religiöser Feste aus. Kultische und religiöse Feste waren stets mit genau festgelegten Handlungsabläufen (Prozessionen, Opferzeremonien, Gottesdienst) verbunden, die in einer strengen zeitlichen Reihenfolge abzulaufen hatten (exakt festgelegte Choreographie der Opferzeremonie; Liturgie; festgelegte Abfolge von Reden, Predigten und/oder Gesängen). Die Zeremonien standen bei kultischen Festen im Dienste einer Kommunikation, die aus dem Alltag der Menschen hinausführte und auf die Begegnung mit dem „Numen“ ausgerichtet war: Der lateinische Begriff „Numen“, bezeichnete sowohl die göttliche Macht, als auch den Hinweis durch den Gott, (das Orakel, den „Fingerzeig Gottes“), manchmal auch das göttliche Wesen selbst.

Diese ritualisierte Kommunikation kultischer und religiöser Feste ankerte zwar in der sinnlichen Erfahrung der Festbräuche, wies aber immer über den Menschen hinaus: Die Adressat/innen dieser spirituellen Kommunikation waren Geister oder geistha&e Wesen, welche die Natur belebten (Nymphen, Naturgottheiten), menschenähnliche göttliche Wesen, Götter und Gottheiten, die, mehr oder weniger symbolisiert und abstrakt, bestimmte gesellschaftliche Tugenden und/oder Werte repräsentierten (z.B. Gerechtigkeit, kluge Ordnung, Vernunft),(5) oder eben der allumfassende eine Gott, die eine Göttin (Jahwe, Allah, Bahai), der/die das gesamte Spektrum von Naturgewalt und kultureller Schöpfung abdecken sollte.

Abb. 12 Apollo und Aurora (Gerard de Lairesse)

Diese Wesen und Götter waren so konzipiert, dass sie den Menschen zwar in irgendeiner Weise ähnlich, aber doch überlegen gedacht waren: Ihnen wurde magische Macht oder „überirdischer“ Einfluss zugeschrieben. Ihren Einfluss konnten sie auf Menschen ausüben oder in besondere Gaben und Fähigkeiten umsetzen. So konnten sie beispielsweise einen Sonnenwagen übers Firmament ziehen, die Gewalten des Meeres beherrschen oder den Menschen bei der Suche nach einer gerechten Lösung eines Konflikts beistehen. Bei einer schier unerschöppfichen Vielfalt war ihnen jedoch eine gemeinsame Eigenschaft zugedacht: die Vorstellung eines überzeitlichen, das Leben einfacher Menschen überdauernden, „ewigen“ Lebens, die Idee der „Unsterblichkeit“. Die Gestaltung der Kommunikation, der Kontaktnahme und der Beziehung zu den göttlichen Wesen war von der Frühgeschichte bis weit herauf in die Neuzeit nur einer kleinen, auserwählten und mit besonderen Fähigkeiten ausgestatteten Gruppe von Menschen vorbehalten: den Schamanen bzw. den Priesterinnen und Priestern. Diese Gruppe bewerkstelligte den Kontakt zu den überirdischen Wesen auf Dauer, während das Gros der Menschen nur einen punktuellen Zugang zu diesen Wesen hatte, eine Beziehung,(6) welche eben zu den Fest-Zeiten in Szene gesetzt wurde: z.B. während der Weihezeremonien und Wettkämpfe der Pythischen Spiele in Delphi oder der Spiele in Olympia, während der ekstatischen Handlungen der Mysterienkulte oder der heiligen Hochzeit im Dionysos-Kult, oder, um eine Spätform der religiösen Feste zu nennen, während der ausladenden Zeremonien der kirchlichen Hochfeste (Ostern,(7) Weihnachten) im Barock.

Ein weiteres Charakteristikum der kultischen und der religiösen Feste war, dass sie die kollektive Form der Beziehung zu den Göttern als die bedeutsamere bewerteten und in Szene setzten. Im Gegensatz zur heute geläufigeren individuellen Bezugnahme zu einem Gott waren die kultischen und die religiösen Feste eine Inszenierung für die Gemeinschaft. Das Kollektiv sollte die Beziehung zur Macht der höheren Wesen erleben und auf diese Weise an seiner Macht teilhaben.

Diese Bezugnahme zur (angenommenen, projizierten) Macht der Geister und Götter machten sich die (weltlichen) Herrscher zunutze, um die eigene Macht bzw. das ihr zugrunde liegende Herrschaftssystem zu stärken. In Altägypten ist beispielsweise seit dem 3. Jt. v. Chr. der Falkengott Horus als göttlicher Schutzherr des Königs nachgewiesen. Das ägyptische Opet-Fest(8) wurde in Form einer Heiligen Hochzeit als alljährliche Erneuerung und Bestätigung der göttlichen Herkunft der Königin/des Königs und der darauf beruhenden Ordnung inszeniert. In den prunkvollen höfischen Festen der Neuzeit findet sich ein zeitlich jüngeres Pendant zu diesem Typ von Festen, welche einerseits die kosmische Erneuerung der Welt thematisierten, zugleich aber der Stabilisierung von Herrschaft dienten.

1.3 Der soziale Sinn der Zeremonien und Riten

Der Sinn dieser kollektiv inszenierten Riten bei kultischen und religiösen Festen lag darin, die für die jeweilige Gemeinschaft relevante Symbolik bzw. die damit verknüpfte Erinnerung in zyklischen Abständen zu aktivieren und damit die (Heils-)Vorstellung der überzeitlich gleich bleibenden Macht der verehrten Gottheit zu stabilisieren. Nach einer kurzen Phase der rauschhaften Exzesse und des scheinbar chaotischen Treibens erwachten die Welt und die Menschen gereinigt in der erneuerten alten Ordnung. Sozial damit verbunden war der Gedanke, dass die Macht jener Menschen, die an dieser göttlichen Macht teilhatten, ebenfalls bestehen blieb und nicht vergehen sollte.

Kultische und religiöse Feste hatten damit eine stabilisierende Funktion für die bestehende gesellscha&liche und/oder politische Ordnung. Insbesondere für größer werdende Gemeinschaften mit hierarchischer Struktur (Königtum), die allein aufgrund der Größe und Komplexität ihrer gesellschaftlichen Ordnung einer symbolischen Repräsentanz von Herrschaft bedur&en, waren Feste offensichtlich ein geeignetes Instrument, um diese Ordnung zu festigen. Feste hatten damit außerdem identitätsbildende Funktion für größer werdende Gruppen von Menschen, insbesondere solche, die unter einer Herrschaft vereint waren. Die festlichen Inszenierungen waren immer auch Inszenierungen der Herrschaft, Demonstrationen der Macht der Herrschenden.

Weit über den kultischen und religiösen Kosmos hinaus waren Feste auch in ihren späteren säkularen Formen selten eine Angelegenheit von Einzelnen bzw. für Einzelne (vgl. das erst ab dem 19. Jh. sich entwickelnde Geburtstagsfest), sondern eine Angelegenheit, die von einer herrschenden Priester- und/oder Adelskaste für die ihr Untergebenen veranstaltet wurde. Feste waren Zeremonien fürs Kollektiv, mit Speise und Trank, mit Gesang und Erbauung, mit Orientierung im religiösen, im gesellschaftlichen und/oder im politischen Leben.

Ein dazu passender weiterer Typ von Festen, dessen Geschichte ebenfalls weit ins Kultische zurückreicht, stellt eine Beziehung zu Wesen her, welche für eine jeweils genau bestimmbare Gemeinschaft eine gemeinsame Vergangenheit repräsentieren, beispielsweise die Ahnen als Hausgottheiten (röm. Laren), die Schutzgottheiten einer Stadt (Pallas Athene), die Schutzheiligen von Adelsgeschlechtern (Leopold – Babenberger; Ludwig IX. der Heilige – Kapetinger) und die Stammesgötter (Jahwe – Israeliten): „Wo immer ein Verband oder eine Vergesellschaftung nicht als eine persönliche Machtstellung eines einzelnen Gewalthabers erscheint, sondern als ein ‚Verband‘, da hat sie ihren besonderen Gott nötig.“ (Weber 1921; 1980, 252)

Diese Tradition des Identitätsgewinns einer Gemeinschaft oder Gesellschaft durch den Bezug auf einen oder mehrere göttliche Wesen, von deren Ursprung man die eigene Herkunft und Stärke ableitete und deren Zugehörige folgerichtig durch eine Form von Eidgenossenschaft abgesichert wurde, wurde teilweise bis in die späte Moderne fortgesetzt, etwa mit den Festen der Nationalheiligen (Hl. Stefan – Ungarn; St. Patrick – Irland). In der Feier der Nationalheiligen ist auch die stärkste Kontinuität zu den säkularen Nationalfesten zu entdecken, insbesondere jenen, welche die Entstehung, die Macht und die Kontinuität der „Nation“ – also die Gemeinschaft aller derer, die über die natio, die Geburt, verbunden sein sollen – zum Inhalt haben.

1.4 Paradoxe Strukturen in Festkulturen

Abb. 17 Umkehr der Ordnung-Kinderbischof

Feste haben allerdings nicht nur affirmativen und herrschaftslegitimierenden Charakter, ihnen liegt häufig eine paradoxe Struktur zugrunde, welche die Unterwerfung unter die herrschende Ordnung aufhebt – allerdings nur für die Dauer des Festes. Am deutlichsten wird diese Verkehrung der Welt in ihr Gegenteil im Karneval. Er ist geradezu als Umkehr bestehender sozialer Machtverhältnisse interpretierbar: Soziale Spannungen, Generationenkonflikte und/oder Herrschaftskonflikte können solcherart für die Zeit der (Narren-)Feste sistiert werden (Feste als Friedenszeit). Tabus werden außer Kraft gesetzt und soziale Schranken oder Normen durchbrochen.

Die Umkehrung sozialer Verhältnisse ins (übertriebene) Gegenteil kann in letzter Konsequenz allerdings als ein weiterer Faktor zur Stabilisierung der herrschenden Ordnung interpretiert werden: Das Ausleben alternativer Rollen hatte auf der einen Seite Ventilfunktion: Hier konnten viele aggressive Impulse ausgelebt werden, die sich sonst vielleicht gegen die herrschende Ordnung gerichtet hätten. Auf der anderen Seite hatte es eine läuternde Wirkung: Durch den Rollenwechsel konnte die vermeintliche Absurdität eines von der bestehenden Ordnung abweichenden Verhaltens vor Augen geführt werden, was zur Stabilisierung der bestehenden Ordnung beitrug.

Bei den frühen kultischen Festen war generell die herrschaftslegitimierende Funktion dominant:(9) Als Beispiel seien hier nur die meist grausamen und brutalen Unterwerfungsrituale der Initiationsriten sowie die Rituale mit Menschenopfern genannt. In diesen Riten wurde deutlich, wie sehr diese Art „Feste“ der bedingungslosen Unterwerfung unter die bestehende Herrschaft Ausdruck und Nachdruck gaben.

In kulturgeschichtlicher Perspektive können wir davon ausgehen, dass zentrale Unterwerfungsrituale, die in den frühen Kulten noch am menschlichen Körper umgesetztwurden (z.B. Menschenopfer; schmerzhafte Initiationsriten der Jugendlichen) im Prozess der Zivilisation (Elias 1969) nach und nach durch Symbole und Zeremonien (Schlachtung von Opfertieren--> christliche Messliturgie: Wein und Brot; blutige Kämpfe der Gladiatoren--> Ehrung der Sieger im musikalischen oder sportlichen Wettkampf --> Sublimierung in Leistung und in Werten der Bildung und Kultur) Ersatz fanden.

Schließlich sei noch die Bedeutung der zyklischen Inszenierung der Feste hervorgehoben. Nicht nur im Ritual der Feste und in der Zeremonie lag ein Aspekt der Aufhebung von realen gesellschaftlichen Ungleichheiten und Machtverhältnissen. Auch das zeitlich wiederkehrende Ereignis („Alle Jahre wieder …“; Wiederholung im Jahresrhythmus; Wiederholung in magischen oder mythologischen Zyklen) tat seine Wirkung: Bezogen auf das uns heute geläufige Verständnis von Zeit und historischem Wandel entlang eines linear fortlaufenden Kalenders suggeriert die zyklische Struktur von Zeit die Aufhebung des Wandels. Sie trägt damit zur Enthistorisierung von konkreter menschlicher Erfahrung bei: Im Verhältnis zur kosmischen Zeit und den „ewigen“ Zeitrhythmen, auf die der mythologische Festkalender anspielte, wurde partikular erfahrenes und erlittenes Leid nebensächlich. Die Wiederkehr des Schöpfergottes, oder einzelner Gottheiten, z.B. der Frühlingsgötter und der Fruchtbarkeitsgottheiten, hob die partikulare Erfahrung von menschlichem Leid auf und führte sie einer Erlösung im mystisch-magischen Erfüllungs(t)raum zu.

Das Wiederkehrende, das Zyklische deutet auf Stabilität, auf das Gleichbleibende, das scheinbar Unveränderbare. Die kirchlichen Hochfeste im Jahresrhythmus, das Namensfest, das in der Vita des Heiligen gründet, das Fest des Kirchenpatrons, alle diese Feste suggerieren Beständigkeit. Dieser Wiederholungscharakter von Festen und der damit verknüpfte Verweis auf das Wiederkehrende, das immer Gleiche, das ewig Gültige, steht in deutlichem Gegensatz zum modernen Zeit- und Geschichtsverständnis, das in seiner Grundkonzeption die Endlichkeit und damit auch den Tod akzeptiert.

1.5 Die soziale Funktion von Riten

Abb. 18 Riten

Zusammenfassung nach Peter Glasner:(10)

Riten(11) zählen zu den primären Organisationsformen des kulturellen Gedächtnisses“ und können als symbolische Handlungen identitätsstiftend wirken, insofern sie wesentliche Gehalte des Gruppengedächtnisses vergegenwärtigen. Daher richten soziale Formationen wie Religionen, Nationen, Kommunen, sowie Familien und Vereine für ihr rituelles Handeln spezifische Orte ein (Synagoge, Kirche, Kapelle, Gedenkstätte, Geburts-, Stamm- und Vereinshaus). Der hohe Geformtheitsgrad von Ritualen und der konstitutive Zwang, sie zu wiederholen, garantieren die permanente Identitätsstabilisierung der Partizipienten und die Tradierung spezifischen Ritualwissens.

Identitätsstabilisierende Wirkung erzielen Riten, indem sie insbesondere Elemente fundierender Vergangenheit (Auszug aus Ägypten, Tod Jesu) thematisieren und durch Wiederholung (Pesach-Fest, Eucharistie) im kollektiven Gedächtnis festschreiben. kollektive Vergangenheit kulminiert im Ritus selbst zu symbolischen Figuren. … rituelle Praktiken stellen Kulminationspunkte kollektiven Erinnerns dar und bilden aufgrund ihrer Wiederholung eine Form institutionalisierter Mnemotechnik.

Als multimediale Inszenierungen konstituieren sich Riten durch ein komplexes Zusammenwirken von Sprache, Musik (Chor, Litanei, Hymne, Lied) und Symbolhandlungen (Gesten, Tänze, Opfer, Mahl). Ihr Ablauf gründet auf der Interaktion der Träger des Ritualwissens und der Mitglieder der Erinnerungsgemeinschaft. In Sprechchören und Gesang erfahren sich die einzelnen Partizipienten als Erinnerungsgemeinschaft, deren kollektive Identität insbesondere durch den Anlass des jeweiligen Ritus (Toten-, Schlacht-, Sieges-, Befreiungs-, Widerstands-, Holocaustgedenken) gestiftet wird. "(Pethes 2001, 504)

Bei aller Vielfalt der Erscheinungsformen sind also

  • die Freisetzung von alltäglicher Arbeit
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  • die rituelle, von herrschenden sozialen Konventionen abweichende Form der Gestaltung
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  • der Bezug zu einem spirituellen Wesen, einer Gottheit, und/oder
  •  

  • der Bezug zu einer göttlichen Idee. einem Ideal, einem Wert

gemeinsame Funktionen von kultischen und religiösen Festen.

1.6 Sozialpsychologische Erklärungen der Identitätsbildung durch Feste

Abb. 19 Christus (Prozession Señor y Virgen del Milagro in Salta - Argentinien)

Fragen wir danach, warum diese kollektiven Inszenierungen eine derart stabilisierende Wirkung erzeugen, so können wir sozialpsychologische Erklärungen heranziehen, welche sich mit dem Zusammenhalt von Gemeinschaften beschäftigt haben.

Brauchbare Erklärungen finden wir bei Sigmund Freud, der sich in „Massenpsychologie und Ich-Analyse“ (1921) mit Phänomenen des kollektiven Seelenlebens auseinandersetzte. Freud traf zunächst die Unterscheidung zwischen führerlosen Massen und Massen mit Führern und analysierte dann den Zusammenhalt in zwei komplexen Massen mit Führern – wir würden heute von Organisationen sprechen –, nämlich Kirche und Heer. Den psychologisch bedeutsamen Faktor des Zusammenhalts sah Freud bei der Kirche wie beim Heer darin, dass beide Organisationen von der Vorstellung getragen wurden, dass alle ihre Mitglieder von einem Oberhaupt bzw. einem Führer „mit der gleichen Liebe geliebt wurden“:

In der Kirche – wir können mit Vorteil die katholische Kirche zum Muster nehmen – gilt wie im Heer, so verschieden beide sonst sein mögen, die nämliche Vorspiegelung (Illusion), daß ein Oberhaupt da ist – in der katholischen Kirche Christus, in der Armee der Feldherr, – das alle Einzelnen der Masse mit der gleichen Liebe liebt. An dieser Illusion hängt alles; ließe man sie fallen, so zerfielen sofort, soweit der äußere Zwang es gestattete, Kirche wie Heer. Von Christus wird diese gleiche Liebe ausdrücklich ausgesagt: Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan. Er steht zu den Einzelnen der gläubigen Masse im Verhältnis eines gütigen älteren Bruders, ist ihnen ein Vaterersatz. Alle Anforderungen an die Einzelnen leiten sich von dieser Liebe Christi ab. Ein demokratischer Zug geht durch die Kirche, eben weil vor Christus alle gleich sind, alle den gleichen Anteil an seiner Liebe haben. Nicht ohne tiefen Grund wird die Gleichartigkeit der christlichen Gemeinde mit einer Familie heraufbeschworen und nennen sich die Gläubigen Brüder in Christo, das heißt Brüder durch die Liebe, die Christus für sie hat. Es ist nicht zu bezweifeln, daß die Bindung jedes Einzelnen an Christus auch die Ursache ihrer Bindung aneinander ist. Ähnliches gilt für das Heer; der Feldherr ist der Vater, der alle seine Soldaten gleich liebt, und darum sind sie Kameraden untereinander. Das Heer unterscheidet sich strukturell von der Kirche darin, daß es aus einem Stufenbau solcher Massen besteht. Jeder Hauptmann ist gleichsam der Feldherr und Vater seiner Abteilung, jeder Unteroffizier der seines Zuges. Eine ähnliche Hierarchie ist zwar auch in der Kirche ausgebildet, spielt aber in ihr nicht dieselbe ökonomische Rolle, da man Christus mehr Wissen und Bekümmern um die Einzelnen zuschreiben darf als dem menschlichen Feldherrn.“ (Freud 1921, 102f )

Freud beließ es aber nicht dabei, den Bezug zur Vaterfigur oder zum Vaterersatz sowie die damit verknüpfte Bindung der Menschen untereinander als Erklärung für den Zusammenhalt der Masse zu geben. Er ging der Frage nach, was den einzelnen Menschen dazu bringt, sein kritisches Empfinden (sein Gewissen; seine eigenständigen Konzepte zukünftiger Entwicklung) zu opfern und einem Führer zu folgen. Als zentrale Erklärung führte er dazu das Phänomen der Identifizierung an, das dem Einzelnen ermöglicht, sein eigenes Ich-Ideal, also das Idealbild, das er von sich hat, aber nicht erreicht, an eine andere, von ihm idealisierte Person (ursprünglich den idealisierten Vater oder die idealisierte Mutter) zu binden:

Bei manchen Formen der Liebeswahl wird es selbst augenfällig, dass das [Liebes-]Objekt dazu dient, ein eigenes, nicht erreichtes Ichideal zu ersetzen. Man liebt es wegen der Vollkommenheiten, die man fürs eigene Ich angestrebt hat und die man sich nun auf diesem Umweg zur Befriedigung seines Narzißmus verschaffen möchte.“ (Freud 1921, 124)

Freud verwies darauf, dass hinsichtlich der Verliebtheit und den mit diesem Gefühlszustand einhergehenden regressiven Verhaltensweisen (Kritiklosigkeit, Hörigkeit) psychologisch kein Unterschied darin besteht, ob ein Individuum einem Führer, oder (in einer sublimierten Form der Objektwahl) einer führenden Idee, den von ihm anerkannten Wertvorstellungen, oder einer Ideologie folgt:

Gleichzeitig mit dieser ‚Hingabe‘ des Ichs an das Objekt, die sich von der sublimierten Hingabe an eine abstrakte Idee schon nicht mehr unterscheidet, versagen die dem Ichideal zugeteilten Funktionen gänzlich. Es schweigt die Kritik, die von dieser Instanz ausgeübt wird: alles, was das Objekt tut und fordert, ist recht und untadelhaft. Das Gewissen findet keine Anwendung auf alles, was zugunsten des Objektes geschieht: in der Liebesverblendung wird man reuelos zum Verbrecher. Die ganze Situation lässt sich restlos in eine Formel zusammenfassen: Das Objekt hat sich an die Stelle des Ichideals gesetzt.“ (Freud 1921, 124f )

Abb. 20 Saturnalien

In Anwendung dieser Thesen auf die Psychologie der „Massen“ fragte Freud auch nach der Funktion, die den Festen zukommt. Er verstand sie als eine kollektive Einrichtung, die den Menschen temporär von seinem Gewissen bzw. von den Idealvorstellungen seines Selbst entbindet und vermutete darin eine Art Ventilfunktion, die vom Kollektiv angeboten wird, um die Menschen von ihren alltäglichen Pflichten und Anstrengungen zu entlasten. Diese Entlastung schien ihm auch im Dienste der psychischen Gesundheit zu stehen:

Es wäre gut denkbar, dass auch die Scheidung des Ichideals vom Ich nicht dauernd vertragen wird und sich zeitweilig zurückbilden muss. Bei allen Verzichten und Einschränkungen, die dem Ich auferlegt werden, ist der periodische Durchbruch der Verbote Regel, wie ja die Institution der Feste zeigt, die ursprünglich nichts anderes sind als vom Gesetz gebotene Exzesse und dieser Befreiung auch ihren heiteren Charakter verdanken. Die Saturnalien der Römer und unser heutiger Karneval treffen in diesem wesentlichen Zug mit den Festen der Primitiven zusammen, die in Ausschweifungen jeder Art mit Übertretung der sonst heiligsten Gebote auszugehen pflegen. Das Ichideal umfasst aber die Summe aller Einschränkungen, denen das Ich sich fügen soll, und darum müßte die Einziehung des Ideals ein großartiges Fest für das Ich sein, das dann wieder einmal mit sich selbst zufrieden sein dürfte.“ (Freud 1921, 147)

Diese vorrangig aus der Individualpsychologie und aus einer Perspektive des selbstbestimmten (bürgerlichen) Persönlichkeitsmodells entwickelte Konzeption Freuds wurde in nachfolgenden sozialpsychologischen Konzepten stärker auf gesellschaftliche Verhältnisse angewandt. Besonders die Ethnopsychoanalyse lieferte dazu anregende  esen: Der Begründer der Ethnopsychoanalyse, Georges Devereux (1908–1985), wies in seiner Arbeit „Normal und Anormal“ ( Devereux 1982, 91ff) darauf hin, dass Menschen in jeder Kultur lernen, die dort allgemein akzeptierten Verhaltensweisen als normal anzusehen, andere aber, die für diese Gesellschaft als bedrohlich oder unerwünscht gelten, zu verdrängen. Durch die Ausbildung von Abwehr- und Anpassungsmechanismen(12) im Erziehungs- und Sozialisationsprozess lernt jeder Mensch dieser Kultur nicht nur das Verhalten selbst, sondern bereits die ihnen zugrundeliegenden Fantasien und Wünsche sowie die darauf aufbauenden Handlungsimpulse (z.B. den Angriff auf die oder die Tötung der Herrschenden; die Überschreitung etablierter Konventionen) als sozial nicht akzeptiert (anormal) zu betrachten und mittels dieser Abwehrmechanismen auf Dauer zu verdrängen.

Wie die Psychoanalyse zeigt, sind diese verdrängten Wünsche und Handlungsimpulse allerdings mit dem Akt der Verdrängung nicht erledigt, sondern wirken unbewusst weiter und beeinflussen die psychische Produktion des Menschen weiterhin. Neurotische Störungen und „unangepasste“ Verhaltensweisen weisen darauf hin, dass jedes Individuum in vielschichtigen Konflikten zu den etablierten kulturellen Normen steht. Mario Erdheim hat darauf aufbauend seine  These von der „gesellschaftlichen Produktion von Unbewußtheit“ (Erdheim 1984) entwickelt. Feste dienen in diesem Sinne auch zur Stärkung der in einer Gesellschaft bestehenden Normen und Werte. Feste können in diesem Zusammenhang als Stabilisatoren des gesellschaftlichen bzw. kulturellen Unbewussten beschrieben werden. Sie schaffen kurzfristig Entlastung, indem sie zur Durchbrechung von sonst streng kontrollierten Verhaltensregeln und Tabus (Spott gegenüber Vorgesetzten, Besetzung öffentlicher Räume: Straßen, Plätze) auffordern bzw. diese erlauben, allerdings im nachfolgenden Festritus wieder an die bestehenden gesellschaftlichen Normen heranführen.

1.7 Politische Feste: Geschichte, Strukturen und Funktionen

Non, peuples heureux, ce ne sont pas là vos fêtes! C’est en plein air, c’est sous le ciel qu’il faut vous rassembler et vous livrer au doux sentiment de votre bonheur. Que vos plaisirs … soient libres et généreux comme vous, que le soleil éclaire vos innocents spectacles, vous en formerez un vous-mêmes, le plus digne qu’il puisse éclairer. (Jean-Jacques Rousseau à M. d’Alembert, 1758)(13)

Politische Feste dienen dazu, zentrale Ziele und Werte einer politischen Bewegung oder eines politischen Systems in Szene zu setzen. Beispielsweise die Rechtmäßigkeit der bestehenden Herrschaft, die Unabhängigkeit des Staates, die Proklamation einer Verfassung, den Friedensschluss mit den verfeindeten Nachbarn, oder einen Ausgleich zwischen gegensätzlichen Interessen in einer Gesellschaft.

Abb. 21 1. Mai 2013 Rathausplatz (Wien)

Wie kein anderes politisches Fest symbolisiert heute der Erste Mai, der Tag der Arbeit, den Gedanken des Ausgleichs zwischen solch gegensätzlichen gesellschaftlichen Interessen, in diesem Fall der Interessensgegensätze zwischen Unternehmerinnen/ Unternehmern und Arbeiterinnen/ Arbeitern, zwischen Arbeitgeberinnen/ Arbeitgebern und Arbeitnehmerinnen/ Arbeitnehmern.

Doch die Geschichte der politischen Feste reicht weiter zurück als zum 1. Mai 1890, jenem Datum, an dem die Arbeiter/innen zum ersten Mal weltweit den Tag der Arbeit begingen.

Im ersten Teil dieses Artikels war bereits von der Bedeutung der kultischen und religiösen Feste für die Legitimierung der Herrschenden die Rede. Der Erste Mai repräsentiert – jedenfalls in seinen Ursprüngen – einen anderen Typ des politischen Festes: den Typus des Widerstands und des Protests, den Typus des herrschaftskritischen, emanzipatorischen Festes. Wir können grundsätzlich also zwei Typen von politischen Festen unterscheiden:

  • 1. Feste, die der Repräsentation von Herrschaft dienen. Sie zielen darauf ab, die jeweils an der Macht befindlichen Herrscher/innen oder die im Nationalstaat dominierenden politischen Kräfte in ihrem Legitimitätsbedürfnis zu unterstützen. Beispiele dafür sind neben der Mehrzahl der schon erwähnten kultischen und religiösen Feste die höfischen Feste der Barockzeit, weitgehend auch die heute gefeierten Nationalfeiertage.
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  • 2. Feste, die tendenziell gegen die etablierten Herrschenden gerichtet sind: Sie zielen auf Reformen des Staates oder der gesellschaftlichen Strukturen, auf Reformen der Arbeitswelt (Achtstunden-Tag), auf Reformen der kulturellen Normen und Werte (Friedensfeste). Solche Feste werden manchmal unter Bezugnahme auf schmerzvolle Niederlagen, Gewalt und Unterdrückung (Reformation) begangen, oder sie werden unter Formulierung von politischen Forderungen gefeiert, die einen Ausgleich der politischen (gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, kulturellen) Ungleichheit(en) anstreben (Glaubensfreiheit; Verfassung; Zugang zum Wahlrecht ohne Anschauung des Geschlechts, des sozialen Standes oder der ethnischen Zugehörigkeit).

Abb. 22 1. Mai 1912 Wien Screenshot

Anders als beim Straßenkampf oder bei militärischer Auseinandersetzung ist für die politischen Feste die friedliche und festliche Stimmung konstitutiv. Wie die kultischen oder die religiösen Feste sind auch die politischen Feste aus dem Alltag herausgehoben. Feiertags- und Freizeitstimmung ist ein typisches Merkmal dieser Festveranstaltungen. In ihrer kommunikativen Ausrichtung haben sich die politischen Feste jedoch vom spirituellen Hintergrund gelöst. Sie verwenden nicht mehr die Gottheiten als Projektionsflächen ihrer sozialen oder politischen Botschaften, oder als die idealen Repräsentant/innen der gesellschaftlich erwünschten Tugenden und Werte, sondern thematisieren relativ direkt die bestehenden sozialen Verhältnisse oder die zu verändernden Missstände im politischen System.

Die Entwicklung der politischen Festkultur in Europa geht einher mit der Ausbildung einer säkularen, nicht religiös orientierten Öffentlichkeit. Ab dem Zeitalter der Aufklärung kam den öffentlichen Räumen, den Plätzen und Wiesen, auf denen Feste veranstaltet wurden, sowie ab dem späten 19. Jh. auch den Straßen, auf denen Aufmärsche stattfanden, mehr und mehr Bedeutung zu.

Öffentliche Feste, die eine politische Botschaft zum Inhalt hatten, kannte man schon vor dem 18. Jh. Ein Typus war das höfische Repräsentationsfest, bei dem z.B. die Geburt des Thronfolgers, eine Fürstenhochzeit, oder ein fürstliches Begräbnis gefeiert wurde. Die höfischen Feste waren prunkvolle und oft spektakuläre Inszenierungen der Herrschaftsmacht. In den evangelischen Ländern wurden seit Anfang des 17. Jh.s (1617) regelmäßig die Reformationsjubiläen gefeiert. Die Reformationsfeste erinnerten zwar an die ehemalige Unterdrückung der Protestanten, zum Zeitpunkt ihres Entstehens, hundert Jahre nach der Verbreitung der Thesen Luthers, waren sie aber bereits Demonstrationen der erworbenen kulturellen bzw. politischen Macht der protestantischen Kirche im jeweiligen Land. Mehr noch als für die Reformationsfeste galt die Zurschaustellung solcher Macht für die Inszenierung der kirchlichen Hochfeste durch die katholische Kirche während und seit der Gegenreformation.

Gemeinsam war allen diesen Festen, dass sie von den politischen und/oder konfessionellen Eliten inszeniert wurden und als Manifestation ihres gesellschaftlichen und/oder politischen Einflusses in Szene gesetzt wurden. Konformität und Legitimierung der politischen und/oder gesellschaftlichen Ordnung war die Botschaft dieser Feste. Der „gemeine Mann“ (und die „gemeine Frau“) hatten in der höfischen Festkultur lediglich die Rolle des „gaffenden und staunenden Publikums“ abzugeben, eine verantwortlich gestaltende Funktion war ihnen versagt. Im konfessionellen Bereich war ihnen die Rolle des „Kirchenvolks“(14) zugedacht, das mit Gebeten, Gesängen und Prozessionen der jeweiligen kirchlich vorgegeben Liturgie zu folgen hatte.

1.8 Zünftische und bäuerliche Festkultur

Abb. 23 Palio di Siena

Die große Mehrzahl der Bevölkerung, die an den politischen und konfessionellen Entscheidungsprozessen kaum beteiligt war, besaß neben diesen mehr oder weniger oktroyierten Festanlässen eigene Feierzeiten und Festräume. In ihnen spiegelt sich die mannigfach segmentierte, lokal und regional sehr unterschiedlich organisierte Ständegesellschaft des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit. Zünfte, Gilden, Bruderschaften und andere Korporationen hatten seit dem Spätmittelalter eine relativ ausdifferenzierte Festkultur und fanden vielfach Anlässe zum Feiern.

Jede dieser Vereinigungen trachtete danach, rund um die Feste eigene, identitätsbildende Rituale zu entwickeln. Wie schon in der Antike waren allerdings die gemeinsamen Merkmale dieser Feste das Mysterium (z.B. Theaterzyklen zum Mysterium des „Corpus Christi“ am Fronleichnamsfest; die besondere Verehrung des Stadt- oder des Zunftheiligen als Mittler zwischen Gott und den Menschen; die Bruderschaften der Stadt führten Theaterszenen aus der Heiligenvita auf), die Prozession (z.B. Prozession des gesamten Klerus am Fest des Stadtpatrons mit Monstranz, Reliquienschrein, festlichem Ornat), der Wettkampf (z.B. der Palio in Florenz und Siena; Turniere; Tierspiele) und das Gastmahl (häufig mit Feuerwerk). Zunftzeichen, Fahnen, Wimpel und Standarten waren weitere Identitätsmerkmale, welche diesen städtischen Festen eigenständigen Charakter verleihen sollten. Spiel und Tanz, Schmaus und Trank ersetzten gerade in kleineren Städten und den Dörfern die festlichen Bankette, was den kleinstädtischen und dörflichen Festen in der Beschreibung sittenstrenger Zeitgenossen nicht selten das Attribut der Zügellosigkeit und Ausschweifung eintrug.

Fronleichnamsprozession

Die ländliche Bevölkerung feierte Feste an wichtigen Terminen im Jahreszyklus, die sich entlang des Heiligenkalenders Besonders festlich wurde neben den kirchlichen Hochfesten das durch Papst Urban IV. 1264 der ganzen römisch-katholischen Kirche verordnete Fronleichnamsfest inszeniert. Es setzte sich jenseits der Alpen allerdings erst im 14. Jh.(15) durch. Die Fronleichnamsprozessionen waren anschauliche Beispiele der Gesellschaftssordnung,(16) der Festzug wurde streng entlang der hierarchischen Struktur der ständischen Gesellschaft geordnet.

Manche Feste des religiösen Brauchtums gingen auf ältere Traditionen, z.B. auch auf kultische Feste, zurück. Laut dem von Johann Christoph Adelung zwischen 1774 und 1786 geschriebenen Wörterbuch war z.B. in manchen europäischen Ländern der Jahreswechsel am Übergang vom 30. April auf den 1. Mai gefeiert worden. In dieser durch Goethes Faust bekannt gewordenen „Walpurgisnacht“ wurden in einigen Gebieten Bayerns und Österreichs den Verliebten Birkenzweige vor das Haus gestellt. Träger dieses Brauchtums war häufig die ländliche Burschenschaft. Solch „heidnisches“ Brauchtum wurde während der Gegenreformation von den kirchlichen Autoritäten zeitweise verboten. Andere Feste wurden religiös überhöht und mit dem Wirken der entsprechenden Heiligen verknüpft (Hl. Walpurga).

Das dörfliche Festbrauchtum variiert bis heute regional sehr stark. Manche Bräuche, die angeblich seit germanischer Zeit als verbürgt gelten, sind Neuschöpfungen aus der frühen Neuzeit. Dies gilt z.B. auch für viele der während der Gegenreformation forcierten Wallfahrten und Andachtsprozessionen. Andere Festbräuche sind erst durch das bäuerlichromantisierende „Volksbrauchtum“ im Nationalsozialismus neu geschaffen worden: Das heute in Österreich so bekannte Maibaum-Aufstellen ist weder im Wörterbuch von J.Ch. Adelung noch in der älteren und größten deutschen Enzyklopädie des 18. Jh.s, dem „Universallexicon aller Wissenschaften und Künste“ (1731–1754) von Johann Heinrich Zedler erwähnt, wohl aber das Aufstellen der sog. „Liebes-Mayen“. Auch Zedler verstand unter einem „Maibaum“ lediglich die Birkenzweige, die der Geliebten vor das Haus gestellt, den Offzieren je nach Rang vor ihr Quartier gesteckt, oder bei festlichen Anlässen zum Schmuck der Häuser verwendet wurden (ein Brauch, der in manchen österreichischen Gegenden bis heute zu Fronleichnam weiterlebt). Von ganzen Bäumen, die am Ersten Mai aufgestellt würden, wusste Zedler dagegen nichts zu berichten. Textbeispiele dazu finden sich im Materialienteil dieses Heftes unter M04, S. 68–69.

Das Aufstellen von großen entrindeten Fichtenbäumen, auf welche dann die Burschen des Dorfes bei eigens inszenierten Maifesten zum Klang der dörflichen Blasmusik im Wettkampf kletterten, um sich Würste oder andere Preise von den hoch oben hängenden Kränzen zu holen, wurde erst zur Zeit des Nationalsozialismus als bewusste Gegenpropaganda zu den Maifeiern der Arbeiterkultur ausgebaut. Heute gilt es fälschlich als altes germanisches Brauchtum und wird so beispielsweise unkritisch auch in Wikipedia dargestellt.(17)

Abb. 33 Maibaum in Hareth (OÖ)

1.9 Friedensfeste der Aufklärung und Republikanische Festkultur

Es war das aufstrebende und selbstbewusster werdende liberale Bürgertum, welches die öffentlichen Feste mehr und mehr zum Ort der politischen Kommunikation und der Artikulation seiner politischen Forderungen machte. Seit dem Zeitalter der Aufklärung wurden derartige öffentliche Feste mehr und mehr im Gegensatz zum höfischen Repräsentationsfest, aber ebenso in Abgrenzung zur (verpönten, weil chaotisch und als zügellos geltenden) ländlich-dörflichen Festkultur (Kirchweihfeste, Heiligenfeste) inszeniert.

Die beiden vorangestellten Zitate aus dem Brief von Jean-Jacques Rousseau (1758) an Jean-Baptiste le Rond d’Alembert, einen der Herausgeber der „Encyclopédie“, der zu dieser Zeit für den Neubau eines Theaters in Genf warb, charakterisieren die neue Orientierung der Aufklärung und markieren die Konzeption einer neuen, republikanischen Festkultur.

Die Vision von Rousseau waren aufgeklärte Bürger/innen, die nicht passiv in dunklen Theatersälen durch die etablierten Themen des Schauspiels belehrt werden sollten, sondern sich unter freiem Himmel versammelten, um ihre eigenen Feste zu feiern und dort die ihnen wichtigen eigenen Themen zu entwickeln. Die entsprechende Stelle des französischen Originaltextes aus dem „Lettre à M. d’Alembert“ ist als Quelle nachzulesen.

Als Inhalt der Feste schlug Rousseau die Selbstfindung der freien Bürger/innen der Republik vor. Sie sollten sich nach ihren Interessen versammeln und besprechen. Aber nicht nur vom Inhalt her wollte Rousseau weg von den klassischen Themen der griechischen Sagen und den standardisierten Inhalten von Tragödie und Komödie. Er wollte eine völlig neue Kultur des Theater-Schauspiel-Festes, mit republikanischen Inhalten aber auch mit einer Form, die dem Prinzip der Gleichheit und Brüderlichkeit entsprach: Rousseau schloss an die dörfliche Tradition der Maifeste an und schlug vor, einen Stock in die Mitte eines Platzes zu stecken, um den herum sich die freien Bürger/innen versammeln sollten.(19)

Das republikanische Fest im Sinne Rousseaus sollte keine Inszenierung sein, wie im Theater. Die Leute sollten auch nicht in Reihen hintereinander sitzen, sie sollten vielmehr selbst am Schauspiel teilhaben; ja mehr noch, sie sollten selbst das Schauspiel in Szene setzen, selbst die Akteure des Spiels bzw. des Festes sein. Die Festteilnehmer/innen sollten einander nicht den Rücken zeigen, sondern einander ansehen – damit sie sich im anderen entdecken und finden könnten und alle Teilnehmer/innen mehr aufeinander bezogen waren.

Mit diesem Vorschlag stellte sich Rousseau gegen die über viele Jahrhunderte gepflogene hierarchische Struktur in Festkulturen und propagierte – ganz im Sinne des republikanischen Gleichheitsgedankens – eine stärker horizontale Struktur, in der die Bürger/innen ihre Feste auf öffentlichen Plätzen, frei von vorgegebenen Ritualen aktiv gestalten konnten. Dieses neue Prinzip der Gestaltung von Festen, setze sich ab der Aufklärung mehr und mehr durch und wurde zum Prototyp für die Struktur der bürgerlichen Festkultur des 19. Jh.s.

Den Prinzipien der Aufklärung und der französischen Revolution folgend ging es dabei nicht nur um die Eroberung der öffentlichen Plätze und damit um ein Symbol für die beabsichtigte Machtergreifung des Bürgertums, sondern um ein neues Fundament der Gesellschaft, um eine neue Logik der sozialen Beziehungen (Ozouf 1987, 103) und um eine Neuorientierung der betroffenen Bürger/innen. Für die treibenden Kräfte der Französischen Revolution wurde das öffentliche Fest zu dem bevorzugten Mittel, den Bruch mit der alten Ordnung und den Beginn einer Neuen Welt darzustellen.

Abb. 34 Schiller Festzug 1859 Frankfurt

Dass die Aufklärer mit dieser Zielsetzung das bürgerlich-revolutionäre Fest in die alte Tradition der kultischen Feste stellten, die mit den Festritualen eine kosmische Erneuerung der Welt verknüpften, macht den paradoxen Anteil der bürgerlichen Festkultur sichtbar. Diese Paradoxie in der Inszenierung der bürgerlichen Festkultur wuchs umso stärker, je mehr das Bürgertum im Verlauf des 19. Jh.s an gesellschaftlichem Einfluss gewann. Die öffentlichen Festveranstaltungen des liberalen Bürgertums erlebten im 19. Jh. jedenfalls ihren Höhepunkt in einer Vielfalt von Formen (Nationalfeiern, Turnerfeste, Sängerfeste, Schillerfeste).

1.10 Die Pädagogisierung der „Volksfeste“

Bereits gegen Ende des 18. Jh.s wurden, vor allem unter dem Eindruck der Französischen Revolution, dem Konzept des republikanischen Festes, das der Selbstfindung und Selbstbestimmung der freien Bürgerin/des freien Bürgers dienen sollte, „sozialpädagogische“ Überlegungen zur Seite gestellt, die zwar ebenfalls beim „Volksfest“ ansetzten, die Neuauflage dieser Feste allerdings mehr unter dem Nutzen volkswirtschaftlicher und sozialdisziplinierender Überlegungen zu legitimieren und neu zu orientieren suchten.

Abb. 35 Münchner Tagblatt 1803

Anders als für den utopisch denkenden, an einer neuen Gesellschaftsordnung interessierten Philosophen J.J. Rousseau, war es für die an Volkswohlfahrt und wirtschaftlicher Produktivität des Staates interessierten zeitgenössischen Aufklärer nicht selbst ver ständlich, die „Vergnügungen des einfachen Volkes“ in freien und öffentlichen Festen als Teil der neuen Gesellschaftsordnung zu akzeptieren. So sinnierte beispielsweise ein Autor im „Münchner Tagblatt. Eine Zeitschrift historisch-ökonomischen und moralischen Inhalts“ im Jahre 1803 (H 2, 1258f):

Und doch möchte ich mich nicht gleich allemal über die ländlichen Volksfeste, so drollig sie auch aussehen mögen, lustig machen … Die ländlichen Volksfeste …scheinen doch allemal einen guten Endzweck und Absicht gehabt zu haben.“ (zit. nach Heidrich 1984, 32)

Die Übernahme von Elementen des tradierten Festbrauchtums in die republikanische Festkultur bedurfte einer rationalen Begründung. Diese orteten die Aufklärer zuvorderst in der „Natur“ der Menschen selbst, welchen es offensichtlich angeboren sei, sich „Gefühlen der Freude und des Wohlseins“ hinzugeben.

Wir sind angenehmer Empfindungen fähig, tragen die Verlangen nach ihnen, bedürfen derselben zu unserer Erhaltung, Zufriedenheit und Glückseligkeit, und die ganze Natur biethet uns einen mannigfaltigen Reichtum derselben an, und öffnet uns unzählige unerschöp\iche Quellen der Freuden, aus welchen wir zu unserem Bedarf schöpfen können. Dies alles beweiset überflüssig die Rechtmäßigkeit der Vergnügungen an sich.“ (Zeitschrift: Das Sittenblatt. München 1784, H 2, 369. zit. nach Heidrich 1984, 37)

Feste zu feiern lag entsprechend dieser Argumentation also in der guten Natur der Menschen begründet. Doch auch den pragmatischen Aspekt der notwendigen Erholung vom Alltag ließen diese Aufklärer gelten. So konnte man im „Münchnerischen Wochen-Blat“ (1803, Sp. 751) folgende Kompromissvorschläge an das harte volkswirtschaftliche Kalkül lesen:

Wenn der Dienstboth am frühen Morgen, da noch kaum der Hahn gekrähet hat, da Hr. Verfasser und ich der süssen Ruhe im Bett genießen, schon bey der Arbeit ist, wenn er im heißen Sommer, da wir in Gärten und Feldern lustwandeln, vom Schweiße ganz durchnäßet ist, und am Abend müd und schwach ein Ruheplätzlein in seinem schlechten schweren Bette suchet, und das ganze Jahr hindurch streng arbeitet; so sollte man diesen Leuten, die uns alle ernähren, auch einige Freudenfeste gönnen.“ (zit. nach Heidrich 1984, 43)

Das Fest wurde in der Reflexion der Aufklärer aus den jahreszeitlichen und lebenszyklischen Verankerungen und Begründungen herausgehoben und dem Kalkül eines volkswirtschaftlichen und gesellschaftlichen Nutzens unterworfen. Die argwöhnischen Hüter der „Polizey-Ordnungen“ des späten 18. Jh.s wiederum sahen in den Festen einen potentiellen Ausgangspunkt für Aufruhr und Tumult, den es im Interesse der öffentlichen Ruhe und Ordnung zu unterbinden galt. Für die Hüter der bürgerlichen Ordnung hatten die Befürworter der Volksfeste aber ein anderes Argument parat. Die Feste hätten, wie schon seit der Antike bekannt, auch die Funktion, die widerständigen Gemüter im Volke abzulenken. Daher gäbe es gerade angesichts der (Französischen) Revolution „viele Männer, welche die Volksfeste als sicheres Heilmittel gegen das Revolutionsfieber betrachten“. (Voigt 1792,185)

Abb. 36 Cannstatter Volksfest

Über diese Ventilfunktion hinaus waren die Volksfeste aber auch geeignet, das Volk zufriedener, gefügiger und leichter regierbar zu machen. Ein fröhliches Volk sei auch „hundertmal leutseliger, ofner, erfind- und gewerbsamer“, wie es schon 1781 in den „Baierischen Beiträgen zur schönen und nützlichen Literatur“ hieß. (Heidrich 1984, 36) Im bekanntesten deutschen volkswirtschaftlichen Lexikon des 18. Jh.s liest sich das so:

Man muss noch weiter gehen; man muß so gar behaupten, daß die Vergnügungen und Lustbarkeiten zur wirklichen Nothdurft des Sta[a]tes gehören. Ein Stat, dem es ganz und gar daran fehlt, leidet an einer unentbehrlichen Sache Mangel. Seine Bewohner werden dieser Nothwendigkeit halber eben sowohl zu ihren Nachbarn ihre Zuflucht nehmen, als sie es wegen einer andern Nothdurft des Lebens thun. Sie werden entweder der Lustbarkeit halber in die benachbarten Staten reisen, und das Geld ausser Landes verzehren, oder sie werden größtentheils ein so trauriges Land ganz und gar verlassen, und ihre Wohnung in einem andern Lande erwählen; beydes aber ist dem State keineswegs vortheilhaft. Kein vernünftiger Regent kann demnach in seinem Lande die Ergetzlichkeiten und Lustbarkeiten verbiethen, wenn er auch sein Land nach den strengen Regeln der Gerechtigkeit und der Gottesfurcht, ohne alle geheime Staatsabsichten regieren wollte. Diese geheime Absichten der Staatskunst erfordern vielmehr, daß man Lustbarkeiten und Schauspiele von allerley Art zuläßt … Wenn demnach die Vergnügungen und Lustbarkeiten zur Nothdurft eines States gehören, so kann die Polizey nicht verwehren, daß sich das Volk an Festtagen denselben widmet.“ (Krünitz 1773–1858, Band 12 [1777], 637f)

Die entscheidende Neukonzeption erfuhr das „Volksfest“ von Seiten der Aufklärer allerdings dadurch, dass den Festen nicht mehr ein religiöser sondern ein erzieherischer Wert zugedacht wurde. Wenn es schon nicht möglich war, die Feste für das Volk rigide einzuschränken, ohne demotivierte Arbeiter/innen zu erhalten, so konnte man zumindest in bewusster Umdeutung dieser Not die Einflussmöglichkeiten dieser Kulturform für die Erziehung des gemeinen Volkes nutzen. Nicht im Sinne der Entfaltung der freien Bürgerin/des freien Bürgers, wie es Rousseau vorschwebte, sondern im Sinne der Sozialpädagogik, des erzieherischen Einwirkens auf die einfachen Leute gewann die Festkultur mehr und mehr Aufmerksamkeit. So sahen denn die „Volksaufklärer“ im öffentlichen Fest geradezu ein „Hauptmittel, um Aufklärung zu verbreiten“, denn:

Die Erfahrung lehret: daß ein Volk über eine große, wichtige Wahrheit, welche ihm im Tone des Gesetzes vorgetragen wurde, gelacht oder gemurrt habe; indessen die nämliche Wahrheit … bey … einem freudigen Anlasse gesagt, ihm ein Gegenstand ernsten Nachdenkens würde.“ (Archiv für Pastoralkonferenzen, 1811, II, H.10. S. 295, zit. nach Heidrich 1984, 48)

Das Volksfest wurde von dieser Gruppe der Aufklärer ausdrücklich aufgrund seiner Eignung als Bildungs- und Erziehungsmöglichkeit für die einfachen Leute begrüßt. So kann man z.B. in dem von F.X. Mayer 1789 in München erschienenen Band „Über die öffentlichen Lustbarkeiten und den Einfluß derselben in die Sittlichkeit eines Volkes“ lesen:

„Eine gute Einrichtung der Volkslustbarkeiten setzt einen bestimmten Regierungsplan voraus. Es muß ehevor ausgemacht seyn, welche Art von Bildung einer Nation zuträglich sey, undwelche ihr kann und soll gegeben werden. Denn – so wie alle Räder der Staatsmaschine zu diesem bestimmten Zwecke einpassen müssen – muß auch dieses große Triebrad, der Hang zu öffentlichen Vergnügungen, auf diesem hinwirken. – Ich nehme also an, es liege im Plane: daß Liebe zu gesellschaftlichen Tugenden, froher Sinn, Heiterkeit, Genügsamkeit, Liebe der Mitbürger gegeneinander, die sich in der Liebe zum Vaterland und zum Regenten, als dem gemeinschaftlichen Brennpunkte, vereinigt, zur Ordnung führt; und zugleich der Hang zur Schwelgerey, zum Luxus, zum Wohlleben und Müßiggange bekämpfet werde. Die öffentlichen Lustbarkeiten müssen also nach diesem Plane so geleitet werden ...“ (F.X. Mayer (1789). Über die öffentlichen Lustbarkeiten, S. 30, zit. nach Heidrich 1984, 49).

Arbeitswelt - Freizeit

Bildung statt Ekstase, moralisch sittliche Erbauung statt Tanz und Unzucht, Abstinenz und Gesundheit statt Völlerei und Trinkgelage, froher Sinn, Genügsamkeit sowie Liebe zum Vaterland und zum Regenten, das waren die Themen, die durch Umdeutung und Umstrukturierung der „Volksfeste“ in der öffentlichen, bürgerlichen Festkultur dem einfachen Mann und der einfachen Frau unterrichtet werden sollten. Das revolutionäre Konzept der frühen Aufklärer wurde zurückgenommen, das Fest wurde wieder als triebregulierende Institution konzipiert, welches im sich konstituierenden Nationalstaat nun der Sozialisation „des braven und arbeitswilligen Staatsbürgers“ dienen sollte. Nur derjenige nämlich,„welcher arbeitet ... verdient es, er allein hat Bedürfniß und Vermögen dazu, daß er Vergnügungen genieße ... Und gerade dadurch wird mancher belohnet, daß ihm nach überstandener Anstrengung eine Ergötzung zu Theil wird. Der Müßiggänger(20) ist auch dieses Lohns unwürdig,“ heißt es beispielsweise im „Neuen Magazin für katholische Religionslehrer“ von 1802. (H 1; 38f, zit. nach Heidrich 1984, 44)

Mit dieser Deutung gewann das Fest in der Moderne eine weitere Funktion. Es wurde zum gesellschaftlichen Zeichen der Trennung von Arbeitszeit und Freizeit, der Trennung zwischen industriöser Zeit und selbstbestimmter oder jedenfalls in der Gemeinschaft zu genießender freier Zeit. Was Max Weber hundert Jahre später als universelles Charakteristikum des Festes entdeckte, die Trennung von Arbeitszeit und Freizeit, war im modernen Sinne eine Neuschöpfung des industriellen Zeitalters.

1.11 Arbeiterfeste, die Anfänge der Arbeiterkultur

Wir können davon ausgehen, dass sich neben der bäuerlichen und der bürgerlichen Lebenswelt spätestens mit der Etablierung der Manufaktur- und der Heimarbeit im 18. Jh. allmählich eine eigenständige Lebensform der Arbeiter/innen entwickelte. Diese stieß, wie am oben zitierten Schrifttum der (bürgerlichen) Aufklärer ersichtlich, weitgehend auf Unverständnis. Die Lebensform des „Pöbels“, wie die neuen Lohnarbeiter/innen im zeitgenössischen Schrifttum hießen, war aus der Notwendigkeit des Überlebens geboren, aber sie war weder in das traditionelle bäuerliche Leben noch in das gemessene Leben des aufstrebenden Bürgertums einzuordnen. Die Bürger/innen, die selbst um politische Anerkennung rangen, grenzten sich massiv gegenüber den frühen Manufaktur- und ebenso später gengenüber den Fabrikarbeiterinnen/den Fabrikarbeitern ab.

Doch auch zwischen jenen Gruppierungen, die potentiell die Arbeiterschaft ausmachten, gab es im späten 18. und frühen 19. Jh. noch große Differenzen: Die in Zünften organisierten Handwerker verstanden sich als Teil des städtischen Bürgertums(21) und distanzierten sich von den neuen Gruppen der Arbeiterschaft auch dort, wo gemeinsame Interessen gegeben waren. So wurden z.B. beim großen Hamburger Gesellenstreik 1791 die ebenfalls streikenden Manufakturarbeiter/innen noch von den Umzügen der Gesellen ausgeschlossen,weil diese keine Zunftfahnen und Zunftzeichen besaßen.(22)

Abb. 41 rote Fahne

Diese frühen Erfahrungen führten dazu, dass die protestierenden Fabrikarbeiter/innen ab den 1830er/1840er-Jahren ebenfalls Fahnen bei ihren Umzügen mitführten, mit Vorzug die rote Fahne, die ab diesem Zeitpunkt zum originären Symbol der Arbeiterbewegung wurde. Die frühen Arbeiterproteste waren eine Mischung aus Versammlung und Umzügen. Die Umzüge selbst hatten großteils wiederum Festcharakter. Neu und für die damalige Zeit ungewöhnlich war, dass z.B. die Hamburger Manufakturarbeiter/innen bereits in den 1820er-Jahren die Frauen in diese frühe politische Festkultur miteinbezogen. Diese Mischung aus politischer Agitation und geselligem Beisammensein wurde um die Mitte des 19. Jh.s dann mit den „gesellschaftlichen Ausflügen“ der Arbeiterbildungsvereine, an denen auch die Familien beteiligt wurden, weitergeführt. Politik im Sinne der Streik- und Protestkultur war damit in einer Zeit, als die Frauen weder Wahlrecht noch andere Rechte politischer Partizipation besaßen, zu einer gemeinsamen Angelegenheit der Arbeiterinnen und Arbeiter geworden.

An den von den Arbeiterbildungsvereinen organisierten Bällen nahmen ebenfalls die Frauen teil. Dieser Agitationsstil der Arbeiterbildungsvereine, die Feiern, Familie und politischen Protest verknüppfen, stand in bewusstem Gegensatz zu den Honoratiorenbanketten des liberalen Bürgertums. Sie waren eine Mischung aus Volksfest und Elementen, die aus den adeligen und/oder den kirchlichen Repräsentationsfeiern entlehnt wurden. Über diese neue Form des politischen Festes berichtete beispielsweise der Präsident des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADAV), Ferdinand Lassalle: Bei einer Versammlung/Feier im Mai 1864 im Rheinland, empfingen ihn zunächst am Elbefelder Bahnhof (bei Wuppertal) über 1000 Arbeiter/innen mit „tausendstimmigen Hochrufen“ und in einer „förmlichen Wagenprozession“ begleiteten sie ihn durch die Stadt zum Festplatz. Die Straßen waren mit Girlanden, Blumengewinden, Maien und Transparenten geschmückt und „Arbeiter-Jungfrauen“ warfen „mit schelmischem und sicherem Wurfe einen Blumenregen“ auf den Wagen Lassalles. Der geplante Ball musste nach Lassalles Ansprache ausfallen, da die Lokale „von der Masse so überfüllt waren, dass an Tanzen nicht zu denken war“.(23)

Abb. 42 Lasalle Grabstein

Abb. 43 Schwenders Colosseum - 15. Dezember 1867 Gründungsversammlung des Wiener Arbeiterbildungsvereines

Angelehnt an den (klein-)bürgerlichen Heroenkult (z.B. Schiller-Feiern 1859)(24) entwickelte sich in Deutschland um den früh verstorbenen Ferdinand Lassalle (1825–1864) einregelrechter Personenkult,(25) der von seinen Nachfolgern Karl Liebknecht und August Bebel, aber auch von anderen Zeitgenossen kritisch als „neue Religion“ eingestuft wurde. „Mit Begriffen, die der religiösen Sphäre und der Bibel entlehnt waren, wurden nach Lassalles Tod auch seine Person und sein Werk gedeutet. Die Treue zu Lassalle und seiner Partei wurden gleichgesetzt mit der Treue zur Kirche, Lassalles Werke gleichgestellt mit der Bibel, Lassalle selbst zum ‚Messias‘, sein Tod im Duell zum ‚Opfertod für das unerlöste Proletariat‘. ... Die Lassalle-Feiern liefen nach einem festen Ritual ab. Der Festsaal war mit schwarzem Stoff ausstaffiert. Auf derBühne stand in einem Blumenmeer die Büste Lassalles. Die Feier wurde durch ein Musik- oder Chorstück eröffnet. Den Höhepunkt bildete eine Agitationsrede, in der Lassalles Verdienste um die Arbeiterbewegung gefeiert wurden. Währenddieser Laudatio bekränzte ein Mädchen Lassalles Büste mit einem Blumenkranz. Es folgten weitere Lieder und Gedichte. Diese Lieder und Gedichte, die von Mitgliedern nicht nur für die Lassalle-Feiern, sondern auch für Protestveranstaltungen gedichtet wurden, bildeten einen wesentlichen Bestandteil der politischen Festkultur der Arbeiterbewegung.“

Ritus und sinnlich-symbolische Orientierung fanden sich neben der in den Arbeiterbildungsvereinen gepflegten rationalen Vermittlung sozialistischer Theorien – auch in der Festkultur der sich nach der Mitte des 19. Jh.s allmählich konsolidierenden Arbeiterbewegung. Die Riten, vor allem aber die Lieder und Gedichte dienten dem Bedürfnis nach Geborgenheit, Identifikation und Selbstfindung der erwachenden Arbeiterbewegung. Zusammen mit den volksfestartigen Veranstaltungen, welche auch für Frauen und Kinder seltene Vergnügungen boten (Musik, Konzert, Tanz, Feuerwerk), wurden sie aber auch zu einer Gegenstruktur für die Freizeitkultur des liberalen Bürgertums, welches ab der Mitte des 19. Jh.s zur tonangebenden gesellschaftlichen Kraft aufgestiegen war.

1.12 Der Beginn der sozialistischen Maifeiern und die Rolle der Zweiten Internationale

Abb. 44 1. Mai 1890 Paris

Mythenbildung und symbolische Überhöhung sind Teil der Geschichte(n) zum Tag der Arbeit. In der Literatur zur Geschichte der Erste-Mai-Feiern wird häufig der spontane Charakter der ersten Feiern im Jahre 1890 betont. Erst nach den in diesem Ausmaß jedenfalls unerwarteten weltweiten Erfolgen dieser ersten politischen Machtdemonstration der Arbeiterklasse sei der Gedanke entstanden, den Ersten Mai zu einem sich jährlich wiederholenden „Fest der Arbeit“ zu machen und damit zugleich die politische Festkultur des Proletariats zu institutionalisieren.

Ähnliches findet sich beispielsweise in einer kleinen Schrift der späteren Zentralfigur der polnischen und der deutschen sozialdemokratischen – wie dann der kommunistischen – Bewegung, Rosa Luxemburg. Vier Jahre nach den ersten weltweiten Maidemonstrationen im Jahre 1890 schrieb die damals dreiundzwanzigjährige Studentin in Zürich einen Aufsatz zur Geschichte des Ersten Mai.(Luxemburg 1894) In ihm finden sich bereits wesentliche Elementedes Erste-Mai-Narratives: Die internationale Ausrichtung des Festes, der Anspruch an ein genuin proletarisches Fest, das von der Arbeiterkultur neu geschaffen wordenwar, sowie der Hinweis auf den Doppelcharakter des „Festes“, welches einerseits dem politischen Kampf diente, der aber im friedlichen und festlichen Gewande ausgetragen wurde, andererseits aber zugleich der Erholung und dem Identitätsaufbau der Arbeiter/innen dienen sollte. Rosa Luxemburg verwies zunächst auf ältere Formen der Maiaufmärsche, und verlegte deren Ursprung nach Australien ins Jahr 1856: “The happy idea of using a proletarian holiday celebration as a means to attain the eight-hour day was first born in Australia. The workers there decided in 1856 to organize a day of complete stoppage together with meetings and entertainment as a demonstration in favor of the eight-hour day. The day of this celebration was to be April 21. At first, the Australian workers intended this only for the year 1856. But this first celebration had such a strong effect on the proletarian masses of Australia, enlivening them and leading to new agitation, that it was decided to repeat the celebration every year.” (Luxemburg 1894, 315)

Wie später für die Maifeiern 1890, glaubte Rosa Luxemburg auch für den ersten Tag „völliger Arbeitsruhe“ in Australien zu wissen, dass das Fest zunächst nur als Einmalaktion zur Durchsetzung der Forderung nach dem Achtstunden-Tag geplant gewesen war. Der Beschluss zur jährlichen Wiederholung der Veranstaltung sei erst durch den überraschenden Erfolg der Maifeiern gefasst worden. Ähnlich beschrieb sie die Reaktionen auf die Maifeiern 1890: “In this case, as thirty years before in Australia, the workers really thought only of a one-time demonstration. The Congress decided that the workers of all lands would demonstrate together for the eight-hour day on May 1, 1890. No one spoke of a repetition of the holiday for the next years. Naturally no one could predict the lightning-like way in which this idea would succeed and how quickly it would be adopted by the working classes. However, it was enough to celebrate the May Day simply one time in order that everyone understand and feel that May Day must be a yearly and continuing institution [...].” (Luxemburg 1894, 315)

Luxemburg gab auch eine plausible Erklärung für diesen Entschluss, der auf die Stärkung des Selbstbewusstseins und des Selbstvertrauens der Arbeiterbewegung abzielte: “In fact, what could give the workers greater courage and faith in their own strength than a mass work stoppage which they had decided themselves? What could give more courage to the eternal slaves of the factories and the workshops than the mustering of their own troops? Thus, the idea of a proletarian celebration was quickly accepted and, from Australia, began to spread to other countries until finally it had conquered the whole proletarian world.” (Luxemburg 1894, 315)

Abb. 45 Haymarket Riot

Den weltweiten Arbeiterfeiern am 1. Mai des Jahres 1890 war ein Beschluss der Zweiten Sozialistischen Internationale bei ihrem Gründungskongress in Paris (14.–20. Juli 1889) vorausgegangen. 400 Delegierte aus 21 europäischen Ländern, den USA und aus Ägypten nahmen an diesem Kongress teil. Die österreichische Delegation wurde von Victor Adler angeführt. Der Vertreter Frankreichs, Raymond Lavigne, stellte dort den Antrag, im Gedenken an den Generalstreik von Arbeiterinnen/Arbeitern in Chicago am 1. Mai 1886 (Haymarket Riot) den Ersten Mai als internationalen Kampftag für den Achtstunden-Tag zu organisieren. Der Antrag wurde mit großer Mehrheit angenommen.

Diesem Beschluss war von Anfang an eine Paradoxie eingewebt: Als Kampftag der Arbeiter/innen gedacht wurde der 1. Mai 1890 allerdings als „Weltfeiertag der Arbeit“ ausgerufen, bei welchem sich die Arbeiter/innen aller Industrienationen in Kundgebungen für den Völkerfrieden und für den Achtstunden-Tag einsetzen sollten. Es sollte ein friedliches Fest der Arbeiter/innen werden, das aber den bis zu diesem Zeitpunkt unerfüllten Forderungen der Arbeiter/innen Gehör verschaffen sollte: rechtlicher Schutz der Arbeiter/innen, Eindämmung des aggressiven Raubkapitalismus und der destruktiven Ziele des Imperialismus, der zu dieser Zeit seiner Hochblüte zusteuerte.

Der Mythos der Einzelaktion, die sich dann erst als proletarische Universalie entpuppte, welche es jährlich zu erneuern galt, wird nicht nur dadurch relativiert, dass sich die Sozialistische Internationale auch auf ihren nachfolgenden Kongressen (Brüssel 1891, Zürich 1893) mit der Organisation der Maifeiern befasste. Sie kann auch mit Hinweis auf die monatelange Vorbereitung dieser Maifeiern seitens der Wiener Sozialdemokratie hinterfragt werden.

1.13 Die Organisation der Erste-Mai-Feiern 1890 in Wien

Abb. 46 Victor Adler

Ein halbes Jahr vor der Sozialistischen Internationale hatte sich auf dem Hainfelder Parteitag 1888/89 die „Sozialdemokratische Arbeiterpartei“ (SDAP) unter Victor Adler konsolidiert. Die siebenköpfige österreichische Delegation betrachtete den Aufruf des Internationalen Arbeiterkongresses jedenfalls als eine Gelegenheit, die Einheit der jungen Partei zu stabilisieren und die Organisationsstärke der Arbeiterbewegung zu testen. Die Führungsgruppe um Victor Adler begann bereits im Herbst 1889 mit den minutiösen Planungen für die politischen Festveranstaltungen zum Tag der Internationalen Solidarisierung am 1. Mai 1890.

Die Herausforderungen waren vielfältig: Zum einen fehlte die logistische Erfahrung mit derartigen Großereignissen. Es gab zwar vielfältige Erfahrung in der Organisation von Arbeiterfesten und ebenso Ansätze einer gegenüber den etablierten kirchlichen und bürgerlichen Festen alternativen Arbeiter-Fest-Kultur, die Koordination einer vielschichtigen „Protestfeier“, wie sie für den 1. Mai 1890 geplant wurde, war jedoch völlig neu. Zum anderen stand die Arbeiterbewegung bzw. die sich nun organisierende „Massenpartei“ vor der Herausforderung, sich gegenüber den etablierten bürgerlichen politischen Vereinen als ernstzunehmende politische Vereinigung vorzustellen – und zu behaupten. Es galt daher, die eigene Organisationsstärke zu erproben, ohne bedrohlich aufzutreten und die im städtischen Groß- und Kleinbürgertum ohnehin starken Ängste gegenüber dem Proletariat zu schüren.

Schließlich war die Arbeiterbewegung seit Jahren vielfältigen Provokationen, Schikanen und Verdächtigungen von Seite der Polizeibehörden und der kommunalen Verwaltungen ausgesetzt. „Infolge mehrerer anarchistischer Attentate auf Unternehmer und Wachebeamte, der sogenannten ‚Propaganda der Tat‘, hatte die Regierung am 29. Jänner 1884 den Ausnahmezustand(26) über Wien, Floridsdorf, Korneuburg und Wiener Neustadt verhängt. Doch diese Maßnahme richtete sich gegen die Arbeiterbewegung überhaupt: hunderte gewerkschaftlich und politisch aktive Arbeiter wurden aus ihren Wohnbezirken ausgewiesen, zahlreiche Arbeitervereine behördlich aufgelöst, öffentliche Volksversammlungen generell untersagt, Zeitungen mussten eingestellt werden, Geheimbundprozesse endeten mit schweren Strafen für die Angeklagten. ... Die polizeilichen Repressivmaßnahmen betrafen nicht nur die politischen Aktionen, sondern auch Kulturleben und Freizeitveranstaltungen der Arbeitervereine. So wurde beispielsweise bei Arbeiterfesten, sofern diese behördlich genehmigt worden waren, das Singen des ‚Liedes der Arbeit‘ meistens erlaubt, manchmal aber ohne Begründung verboten. Dutzende Arbeiterlieder durften überhaupt nicht öffentlich gesungen werden.“ (Troch 1991, 11)

Es war daher wichtig, diesen Verdächtigungen und Vorurteilen nicht durch Provokationen von Seiten der eigenen Mitglieder oder gar durch Gewalt, Radau und Vandalismus Nahrung zu geben. Die behördlichen Schikanen zur Verhinderung der Maifeiern im Vorfeld waren vielfältig und richteten sich zuallererst gegen die Führer der erstarkten Arbeiterbewegung. Victor Adler selbst war wegen „anarchistischer Bestrebungen“ Ende Juni 1889 zu vier Monaten Haft verurteilt worden. Das Urteil wurde jedoch vom Obersten Gericht erst im Dezember 1889 bestätigt und die behördliche Zustellung des Urteils nochmals eineinhalb Monate verzögert, sodass Adler seine Haft erst ab Ende Februar 1890 absitzen konnte. Zum Gelingen der Erste-Mai-Feiern konnte er nur aus dem Gefängnis mitfiebern. Wie Adler schrieb, hatte er allerdings Anfang Februar noch einige Wochen Haftaufschub erwirkt, „um wenigstens an den Vorbereitungen zur Maifeier meinen Anteil nehmen zu können“. (Adler 1929, 4ff )

Abb. 47 Anzeige in der Arbeiterzeitung für 1. Mai 1890

Im November 1889 hatte die Parteiführung bereits die Eckpunkte der Maifeiern festgelegt, am 28. November wurden die Beschlüsse der Sozialistischen Internationale in der Arbeiter-Zeitung veröffentlicht, tags darauf folgte der erste Aufruf zur „allgemeinen Arbeitsruhe“ für den 1. Mai 1890. Ab dem 6. Dezember 1889 veröffentlichte die Arbeiter-Zeitung wöchentlich einen fettgedruckten Aufruf: (Troch 1991, 15)(27)

Die sozialdemokratischen Zeitungen und die ihr nahe stehenden gewerkschaftlichen Fachvereine übernahmen schnell den Aufruf zur Maifeier und der Forderung nach der Achtstunden-Arbeitszeit. Ab Anfang Jänner 1890 wurden Vereins- und Gehilfenversammlungen in die Agitation miteinbezogen, in den folgenden Wochen wurden von der Parteileitung „geübte Redner zu diesen Versammlungen entsendet, die im ganzen Reich, insbesondere in den Gebieten mit Industrie oder Bergbau, stattfanden.“(Troch 1991, 16) Flugschriften wie „Der Achtstündige Arbeitstag. Ein Mahnwort an Alle, die es noch nicht wissen“ erschienen mit großer Auflage. Lokale Organisationskommitees wurden auch in hauptstadtfernen Regionen gebildet und trugen zur raschen Verbreitung der für den 1. Mai geplanten Arbeiterfeiern bei.

Die Arbeitsruhe als Kernstück der Arbeiterproteste wurde von den Arbeiterführern deshalb gewählt, weil es den Behörden kaum möglich war, diese Form des Protestes zu verhindern, geschweige denn zu verbieten. Den Polizeibehörden und der Regierung blieben die ersten Anzeichen der Bewegung für den Achtstunden-Tag nicht verborgen. Der damalige Innenminister, Graf Taaffe, erließ bereits am 30. November 1889 einen Erlass an mehrere Landes-Statthalter, in dem er über die geplanten Arbeiterproteste informierte und zur Berichterstattung über „allfällige im Gegenstande gemachte Wahrnehmungen“ aufforderte. Die internationale Koordinierung der Arbeiterbewegung mittels der Maifeier wurde von der Wiener Polizeidirektion als „Probemobilisierung der Arbeiterschaft in Europa, Amerika und Australien“ eingeschätzt und ein „einheitliches und gleichmäßiges Vorgehen“ der Regierungen Europas in dieser Frage vorgeschlagen.

Nach diversen Beratungen im Ministerrat wurde aber erst am 19. April 1890 eine Entscheidung der Regierung über die Arbeit in den Staatsbetrieben veröffentlicht, wonach „für die Regierung kein Anlaß vorliegt, am 1. Mai, welcher weder ein Sonntag noch ein Feiertag ist, in diesen Betrieben [der staatlichen Verwaltung, AE] die Arbeit einstellen zu lassen.“ Ein einheitliches Vorgehen der Regierungen Europas kam aber ebenso wenig zustande, wie eine rechtzeitige Abstimmung zwischen Regierung und Unternehmerschaft hinsichtlich der „Arbeitsruhe“ am Ersten Mai. Viele Unternehmer hatte sich von der Regierung eine entschlossene Haltung gegenüber den Arbeiter/innen erwartet, da der Staat nicht nur gegenüber den Beamten der größte Arbeitgeber war, sondern auch als der größte Unternehmer der Monarchie fungierte und im Besitz von Bergwerken, Eisenbahngesellschaften, Werkstätten, Druckereien und anderer großgewerblicher oder industrieller Betriebe war. (Wiener Abendpost, 19. April 1890, S. 1., zit. in: Troch 1991, 20) Zu diesem Zeitpunkt hatten allerdings schon zahlreiche Großunternehmer dem Ansuchen der Arbeiterschaft nach Freigabe des 1. Mai stattgegeben. Parallel zum formalen Beschluss des Ministerrats hatten die Statthalter in den Ländern Kundmachungen erlassen, in denen sie einerseits formal auf die gesetzliche Lage verwiesen, andererseits aber auch eine gemäßigte Haltung gegenüber den Arbeiterforderungen empfahlen. So hieß es beispielsweise in der Kundmachung des Statthalters von NÖ, Graf Kilmansegg, vom 18. April 1890: „In mehreren Industriezweigen und beziehungsweise Etablissements haben sich übrigens die Arbeiter bereits an die Arbeitgeber mit der Bitte um Freigabe des 1. Mai gewendet und die Gewährung ihrer Bitte zugesagt erhalten. Es dürfte auch die Mehrzahl der Arbeitgeber geneigt sein, einem solchen Ersuchen zu willfahren, eventuell den Tag selbst freizugeben. In diesem Sinne wollen der Herr Bezirkshauptmann bezügliche Anfragen sowohl seitens der Arbeitgeber als der Arbeiter beantworten und in dieser Richtung an den gesunden Sinn der Arbeiterschaft und deren richtiges Urteil über den Wert gesetzmäßiger Zustände appellieren, zugleich aber auch die Arbeiter vor jeder Ausschreitung mit dem Bedeuten ernstlich warnen, daß, im Falle Ausschreitungen dennoch vorkommen sollten, gegen die Urheber und Teilnehmer mit der vollen Strenge des Gesetzes und mit aller Macht vorgegangen werden müßte.“ (zit. in Troch 1991, 22)

Abb. 48 Maiabzeichen 1890

Die zögerliche und teils konzessive Haltung staatlicher Behörden dürfte aber auch mit der schon eingangs beschriebenen Tradition zusammenhängen, welche den Ersten Mai seit langem insbesondere in den deutschsprachigen Gebieten der Monarchie als einen Feiertag oder zumindest als halben Feiertag betrachtete. „Gerade in Wien gaben viele Großunternehmen aber auch kleine Gewerbebetriebe ihren Beschäftigten den Nachmittag dieses Tages arbeitsfrei, denn der 1. Mai wurde als ‚inoffizieller Tag des Frühlingserwachens‘ mit Konzerten, Volksfesten und der sogenannten Praterfahrt, einer Auffahrt prachtvoller Herrschaftskutschen in der Prater Hauptallee, festlich begangen.“ (Troch 1991, 19f)

Neu war allerdings, dass die sich organisierende Arbeiterbewegung diesen Tag entschlossen für ihre politischen Ziele zu nutzen plante und dafür eine gewaltfreie Strategie gewählt hatte, die den gewaltbereiten Maßnahmen von Polizei und Militär wenig Angriffsfläche bot. Victor Adler selbst schrieb dazu rückblickend: „Die Arbeiterschaft war im Begriff zu erwachen; es bedurfte nur des Aufrufes, des Appells, daß es sich erhebe, sich als Ganzes, als kämpfender Körper, als eine Einheit, als Klasse gegen andere Klassen fühle und denlähmenden Traum seiner Ohnmacht abstreife. – Dieser Weckruf mußte für uns in Österreich die Maifeier sein. Wir haben, wie so oft, aus der furchtbaren Not eine fruchtbare Tugend gemacht, und weil wir nicht simpel manifestieren konnten, gerade darum haben wir dem Tag die Höhe einer Weihe gegeben,die unerreichbar war für alle Verbote und Schikanen. Am 29. November verkündete die ‚Arbeiter-Zeitung‘ die Parole: Der 1. Mai 1890 soll der internationale Arbeiterfeiertag werden. An diesem Tage soll die Arbeit überall ruhen, in Werkstatt und Fabrik, im Bergwerk, wie in der dumpfen Kammer des Hauswebers. Der Tag soll heilig sein, und heilig wirklich wird er dadurch, daß er den höchsten Interessen der Menschheit gewidmet ist. Die Menschheit hat heute kein höheres Interesse als die proletarische Bewegung, als insbesondere die Abkürzung der Arbeitszeit. – Dann wurde als Programm vorgeschlagen: Vormittags Versammlungen, nachmittags Erholen im Freien, und weiter hieß es: ‚Die Genossen sehen, unsere Vorschläge sind einfach, durchführbar und gewiß sehr harmlos, kein Streik! Donnerstag am 1. Mai ist Arbeiterfeiertag, aber Freitag am 2. Mai ist jeder wieder in seiner Schwitzbude, früher gewiß als der Herr Chef an diesem Tage, der müde ist von der – Erholung. Also ganz friedlich. Aber warum sollen die Arbeiter nicht ihren Feiertag haben?’ Und von der Stunde an, da dieser Aufruf erschien, ging eine große, von Tag zu Tag wachsende Bewegung durch das ganze Reich. Hunderte von Versammlungen mit der Tagesordnung: ‚Achtstundentag und 1. Mai‘ wurden einberufen und wirkten, wenn sie verboten wurden, fast noch mehr, als wenn sie stattfinden konnten. Ein Flugblatt über den Achtstundentag fand massenhafte Verbreitung. Täglich erhielten wir Nachrichten aus Orten, wo es sich nie gerührt hatte, daß Vorbereitungen für die Maifeier im Gange seien.“ (Adler 1929, 35f )

In der Haft erfuhr Adler durch die Berichte seiner Besucher/innen und durch die Zeitungsberichte, dass die bürgerliche Presse die Angst vor den Arbeiterprotesten schürte. Den sozialdemokratischen Führern war klar, dass die Maifeiern ohne jede Gewalt, ohne Blutvergießen und ohne Krawalle ablaufen mussten, sollte die Arbeiterbewegung Erfolg haben. Polizei und Behörden versuchten durch Einschüchterungen, zumindest den Umfang der Versammlungen und der geplanten Maifeiern einzuschränken. Demgegenüber gaben die sozialdemokratischen Organe und die Arbeiter-Zeitung Verhaltensmaßregeln für die maifeiernden Arbeiter/innen aus, die als frühe Strategien des gewaltfreien Widerstands betrachtet werden können: Die Arbeiter/innen sollten sich streng an die Tagesordnung halten, um keine behördliche Auflösung der Versammlungen zu riskieren. Sollte es dennoch zu einer Auflösung kommen, hätte man ruhig auseinanderzugehen. Ansammlungen sollten vermieden werden. Den Anordnungen von Polizeiorganen sollte „selbst bei nicht zweckdienlich scheinenden Anordnungen auf ’s Möglichste Folge geleistet werden!“ Eventuelle Unruhestifter sollten „mit heiterer Gelassenheit und mit Vermeidung alles Aufsehens“ hinweg expediert werden. (Arbeiter-Zeitung, 25. April 1890, S. 1, zit. in: Troch 1991, 30)

1.14 Die Erste-Mai-Feier 1890 in Wien

Abb. 49 am Nachmittag gesellige Zusammenkunft im Prater (1. Mai 1890)

Der 1. Mai 1890 war ein Donnerstag. Es war an sich ein normaler Werktag, der sich jedoch für die neue Arbeiterbewegung zu einem großen Erfolg entwickelte. Die meisten Unternehmer und Gewerbetreibenden hatten den Arbeiterinnen/den Arbeitern freigegeben, Fabriken und Werkstätten blieben großteils geschlossen. In den Morgenstunden strömtendie festlich gekleideten Arbeiter/innen zu den vereinbarten Versammlungssälen. Im Bereich des heutigen Wien fanden am Vormittag „an die 60 Gehilfen- und Vereinsversammlungen“ statt. An manchen dieser Versammlungen nahmenmehr als 3.000 Personen teil, manchmal konnten die Arbeiter/innen nur außerhalb der überfüllten Säle zuhören.

Die Versammlungen am Vormittag folgten einem in der Parteiführung vereinbarten – und auch den Polizeibehörden bekanntgegebenen – Schema: Entsprechend der „Tagesordnung“ sprachen zunächst die Obleute der jeweiligen Gehilfenkrankenkasse (z.B. jene der Drechsler in Schwenders „Colosseum“ in Rudolfsheim) zur Notwendigkeit der Arbeitszeitverkürzung („Der achtstündige Arbeitstag“), zu den erforderlichen gesellschaftlichen Reformen, zur Forderung nach dem allgemeinen Wahlrecht sowie zum freien Vereins- und Versammlungsrecht. Andere Festredner thematisierten die Ziele der Sozialdemokratie, die Bedeutung gewerkschaftlicher Organisationen und übten Kritik an der Missachtung der Arbeiterschutzgesetze. Dann wurde vom Obmann die gedruckt vorliegende Resolution zum Ersten Mai verlesen und abgestimmt. Der Volltext der Resolution sowie die Originalversion sind in den Quellen nachzulesen.(28)

Grußtelegramme von verbündeten Arbeitervereinen aus dem Ausland wurden verlesen und mit Jubel aufgenommen. Schließlich mahnten die Führer alle Anwesenden, „durch Disziplin zu einer ruhigen und würdigen Maifeier beizutragen, sich den Anweisungen der Ordner zu fügen und nur in kleinen Gruppen in den Prater zu marschieren. Die Versammlung endete mit Hochrufen auf die Sozialdemokratie und auf den 1. Mai und dem gemeinsamen Singen des ‚Liedes der Arbeit‘.“ (Troch 1991, 35)

Nach den Versammlungen begaben sich die Arbeiter/innen teils heim zu ihren Familien oder sie marschierten direkt gruppenweise in den Prater. Dort fanden am Nachmittag in den zuvor reservierten Gasthäusern gesellige Zusammenkünfte der Arbeiter/innen statt. Militärbataillons waren in den Prater abkommandiert und hielten sich dezent im Hintergrund. Die Zahl der Arbeiter/innen, die zu diesen ersten Maifeiern im Prater zusammenkamen, wurde von den Zeitungen mit über 100.000 angegeben. Dass diese Praterfeiern ohne Zwischenfälle verliefen, zeugt von dem gut organisierten Ordnerdienst, vor allem aber von der Disziplin der Arbeiter/innen. Der Redakteur des ‚Deutschen Volksblatts‘ vom 2. Mai 1890 sah das Verhalten der Arbeiter/innen so: „Ruhig saßen die massenhaften Gäste bei ihrem Glase Bier. Es wurde mäßig getrunken und die Ordner übernahmen es, die Kameraden zu ermahnen, den geistigen Getränken nicht über das gewönliche, gut zu vertragende Maß, zuzusprechen.“ (Deutsches Volksblatt, 2. Mai 1890, S. 5.)

Der Nachmittag in frischer Luft, außerhalb des Lärms und der Dumpfheit der Fabrikhallen und Werkstätten war für die Arbeiter/innen nicht nur eine willkommene Abwechslung zu geselligem Gespräch, er verschaffte ihnen auch ein bleibendes Gefühl von Gemeinschaft und Identität. Über ein solches Moment des Herausgehoben-Werdens aus dem dumpfen Alltag berichtete die bürgerliche „Neue Freie Presse“. Im „Schwarzen Bären“, wo sich die sozialdemokratische Führung unter Ludwig Bretschneider, Rudolf Pokorny, Adelheid Popp, Emma Adler, die Reichstagsabgeordneten Engelbert Pernerstorfer, Ferdinand Kronawetter u.a. versammelt hatten, trug der Arbeiter-Sängerbund Lieder vor: „Wie auf Commando wurde es aber in dem großen Gasthausgarten plötzlich mäuschenstill. Von einer Ecke her ertönten die ersten Accorde des ‚Liedes der Arbeit‘ ... Die Arbeiter erhoben sich von ihren Sitzen, und Alle sangen das Lied mit. Bei den Worten: ‚Die Arbeit hoch!‘ entblößten Alle das Haupt. Nachdem das Lied beendet war, ertönten stürmische Hochrufe. Dadurch war auch für die übrige Arbeiterschaft das Signal zum Singen gegeben, und gleich darauf ertönte das ‚Lied der Arbeit‘ von vielen tausenden Kehlen gesungen, in den übrigen Gasthausgärten, so daß von der Restauration ‚zum Eisvogel‘ angefangen bis hinunter zum letzten Gasthausgärtchen die Melodie dieses Liedes erscholl.“ (Neue Freie Presse, 2. Mai 1890, Morgenblatt, S. 2)

 

In der Mehrzahl waren in den Gastgärten Männer versammelt, nicht wenige hatten aber auch ihre Familien mitgenommen. Die organisierte Arbeiterschaft dieser Zeit wurde ja großteils von den handwerklich gebildeten Arbeitern getragen. Ihre festliche Kleidung hatten sie teils mit dem Maiabzeichen und roten Nelken, teils auch mit Kastanienlaub und Maiglöckchen geschmückt.

Die als Feier inszenierte Demonstration der eigenen Organisationsfähigkeit hatte nach den Jahren der Flügelkämpfe nicht nur Wirkung nach innen und trug zur Konsolidierung der Parteistrukturen bei, sie trug auch nach Außen zur Anerkennung der Arbeiterbewegung und im Speziellen der Sozialdemokratie als ernstzunehmendem politischen Faktor bei. Als am Abend des 1. Mai 1890 feststand, dass alle Versammlungen und ebenso die nachmittäglichen geselligen Feiern in den Gasthäusern der Vorstädte und im Prater friedlich verlaufen waren, bewirkte das einen Stimmungsumschwung, der den Arbeiterinnen/den Arbeitern auch in der bürgerlichen Presse viel Respekt und die erstmalige öffentliche Anerkennung als ernstzunehmenden und paktfähigen politischen Faktor verschaffte.

Auch für Victor Adler war klar, dass dieser Tag eine Aufwertung der politischen Bedeutung der SDAP gebracht hatte: "Früh konnte ich’s dann in der Zeitung lesen – denn bei jener ersten Maifeier haben unsere braven Setzer zwar kein Abendblatt gemacht, aber um 9 Uhr abends gingen sie das Morgenblatt setzen, das die frohe Botschaft brachte ... auch mir in meiner Zelle ... Dann aber wußte ich: eine Entscheidungsschlacht ist gewonnen, nun ist der Ausnahmszustand tot! Noch mehr: Nun ist das Proletariat Österreichs erwacht, es ist zum Bewußtsein seiner Kraft gekommen und steht am Beginn seiner Bahn, die zu gehen es keine Gewalt mehr hindern wird ... Und der zweite Mai war mein frohester Tag während jener ganzen Haft!“ (Adler 1929, 38)

1.15 Zusammenspiel von Kult, Religion und politischer Organisation im politischen Fest

Abb. 53 Die Presse über den 1.Mai 1890

Wie war dieser durchschlagende Erfolg der Erste-Mai-Feiern 1890 in Wien zu verstehen? – Offensichtlich lag es nicht nur an einem Faktor allein, dass die Arbeiterversammlungen ein derartiger Erfolg geworden waren. Vielmehr waren an diesem Tag sowohl politische, wie auch soziale und kulturelle Faktoren beteiligt. Es war das Zusammenspiel aller dieser Faktoren, welches der Arbeiterbewegung diesen ersten großen Erfolg bescherte, insbesondere:

  • die effiziente Planung, Bewerbung, Vorbereitung und Organisation der Feiern durch die neu konsolidierte und einheitlich agierende sozialdemokratische Arbeiterpartei
  •  

  • die Konkretheit, Klarheit und Nachvollziehbarkeit der politischen Forderungen (Achtstunden-Tag, Arbeiterschutzgesetze), welche breite Unterstützung auch von den bisher unorganisierten Arbeiterinnen/Arbeitern erhielten – und darüber hinaus auch nach innen einigende Kraft entfaltete
  •  

  • die zeitgemäße Formulierung einer zentralen politischen Forderung (Schutz der menschlichen Gesundheit, menchenwürdige Arbeits- und Lebensbedingungen) in der beginnenden Phase der Hochindustrialisierung
  •  

  • das internationale Konzept, welches die Arbeiter/innen auf den allgemeinen Charakter ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen aufmerksam machte, den Solidaritätsgedanken stärkte und die Arbeiterbewegung – gerade im multikulturellen Vielvölkerstaat Österreich – aus den nationalen politischen Kämpfen heraushob
  •  

  • die kreative Verknüpfung von politischen Forderungen (Achtstunden-Tag) mit kulturellen Traditionen (Winterkehraus, Frühlingsfest, Praterkorso) und identitätsbildenden Symbolen (Zugehörigkeit zu einer aufstrebenden sozialen und politischen Bewegung
  •  

  • die Anwendung von religiösem und kulturellem Ritus (Gesang, feierliche Stimmung) – Verhaltensformen, die im Allgemeinen als unpolitisch gelten – als (gewaltmindernde) Strategien gegenüber der staatlichen und polizeilichen Exekutive (und dem zugrundeliegenden Gewaltmonopol)

Im Zusammenhang mit unserer zentralen Themenstellung interessieren besonders die kulturellen und sozialpsychologischen Faktoren. Wie war es der Arbeiterbewegung gelungen, ein „Fest“ als einen derart starken und identitätsbildenden Faktor auszubauen? Nach den Erfolgen des 1. Mai 1890 beschlossen nicht nur die Sozialdemokraten in der Österreichisch-Ungarischen Monarchie die jährliche Wiederholung der Maifeiern, auch die Sozialdemokratie in Frankreich, dem Deutschen Reich und in Ungarn fasste gleichlautende Beschlüsse. Die Erfolge in Wien und anderen Teilen der Monarchie führten allerdings zu Spannungen zwischen den sonst eng kooperierenden sozialdemokratischen Parteien in Östereich-Ungarn und dem Deutschen Reich, da letztere sich zunächst nicht auf die Arbeitsruhe am 1. Mai festlegen wollten. Erst Beschlüsse auf den nachfolgenden internationalen Arbeiterkongressen (Brüssel 1891; Zürich 1893) trugen zur Verein - heitlichung der Ausrichtung der Erste-Mai-Feiern bei und hatten wesentlichen Anteil an der Verankerung des Ersten Mai als internationalem Feier-„Tag der Arbeit“.

Abb. 54 Tagreveille 1.Mai 2009 Nußdorf am Attersee

Der Gegensatz zur deutschen Arbeiterbewegung rührte auch daher, dass der Erste Mai in Wien und vielen anderen Gebieten der Monarchie seit langer Zeit und zunächst unabhängig von den Aufmärschen der Arbeiterbewegung als heimlicher Feiertag inszeniert wurde, der dem Frühlingsginn galt: Militär- und Bürgerkorpskapellen begrüßten den Morgen des Ersten Mai mit einer Tagreveille, in vielen Orten gab es nachmittags Maikonzerte und Volksfeste. In Wien fand am Nachmittag traditionellerweise eine Auffahrt von prachtvoll geschmückten Kutschen statt, die vom Stephansplatz über die Prater Hauptallee zum Lusthaus führte. Diese ab 1886 als Blumenkorso organisierte Ausfahrt war eine glänzende Inszenierung der Herrschaft von Hof, Aristokratie und Großbürgertum. „Zehntausende schaulustige Wiener bejubelten“ diese Auffahrt, „in den meisten Werkstätten und Fabriken war nach der Mittagsstunde die Arbeit eingestellt worden“, um den Arbeiterinnen/den Arbeitern die Teilnahme an diesem „Vergnügen“ zu ermöglichen. Während die Aristokratie und das Großbürgertum sich im noblen Teil des Praters, beim Lusthaus, trafen, gingen die Arbeiter/innen anschließend in die nahegelegenen Gaststätten des sogenannten Volkspraters. (aus zeitgenössischen Quellen, zit. nach Troch 1991, 112)

Neu war für die Arbeiter/innen also nicht der Zeitpunkt und auch nicht der Ort der Versammlung, sondern der Zweck und die Rolle, die sie bei diesem „Fest“ einnahmen: Ganz im Sinne der republikanischen Idee (vgl. J.J. Rousseau) waren sie im Fest der Arbeit nun selbstbewusste und im eigenen Interesse agierende, politisch Handelnde und nicht mehr Teil des „gaffenden Volkes“ (siehe S. 14, Höfisches Fest). Die frühen Arbeiterfeste zum Ersten Mai waren allerdings keineswegs aus rationaler und politischer Überzeugung alleine entstanden. In zahlreichen Schriften der frühen Maibewegung wurden kühne Kontinuitäten mit „traditionellen Frühjahrsbräuchen oder gar prähistorischen Vegetationskulten“ (Troch 1991, 113) hergestellt. Diese Bezugnahme zu Naturmythen und Geschichte entsprach zwar auch den kulturgeschichtlichen Interessen des Bildungsbürgertums im ausgehenden 19. Jh. (vgl. das stark anwachsende Interesse an ethnologischen Berichten bzw. die naturmythologische Aufladung der künstlerischen Darstellungen), sie erhielten durch die sozialistische Bewegung aber eine neue Bedeutung: Sie wurden zum Symbol des Erwachens der Arbeiterbewegung und des Kampfes gegen die kalten Mächte des Kapitalismus. Die sozialdemokratische Konstruktion des Frühlings-Mythos liest sich beispielsweise so:

Das uralte Fest des Frühlings, die Maifeier unserer Ahnen, galt der Befreiung von den feindlichen Gewalten der Natur. Wintersturm und Frost sind aber nicht die einzigen Unterdrücker des Menschen. Er selbst hat mit der eigenen Hand neue schreckliche Mächte der Unterdrückung geschaffen ... Dem Proletariat ist der Lenz kein Befreier. Aber sein Sehnen eilt einem anderen Frühling entgegen, der die Freiheit von der sozialen Unterdrückung bringt. Der Sozialismus ist der Lenz des Proletariers und ihm ist sein 1. Mai geweiht.“ (Pohl 1899, 4)

In der Rhetorik der politischen Festrede versinkt der marxistische Anspruch auf historische Analyse in der Natur-Metapher und im Mythos. Die Maifeier wird in eine alte Tradition gestellt, die mit den kultischen Festen zu Frühlingsbeginn in Verbindung gebracht wird. Natursymbolik wird in die politische Argumentation eingeflochten und soll die Stimmung zum politischen Kampf für eine gerechtere Welt heben. Karl Kautsky, der neben Karl Marx und Friedrich Engels damals hochgeschätzte marxistische Theoretiker, verglich die sozialistischen Maifeiern mit einem „Fest der aufgehenden Sonne, das gleich dem Weihnachtsfest den kommenden Sieg des uns geborenen Lichtes feiert.“ (Kautsky 1902, 2f )

Ekstatische Momente, wie wir sie vorne für die Tradition kultischer und religiöser Feste besprochen haben, wurden also auch für die sozialistischen Maifeiern beschworen: Der erste Mai wurde als „jauchzender Bote des kommenden Völkerfrühlings“ (Ellenbogen 1895, 4) gedeutet und sollte auf die menschheitsgeschichtliche Mission der Arbeiterbewegung hin ausgerichtet werden: „So fühlen wir uns am Ersten Mai den Kämpfen des Alltags entrückt und unser Blick richtet sich auf die großen Ziele unserer Bewegung. Was ihr das Heiligste ist, erfüllt am Maientag die Herzen der Wiener Arbeiterschaft.“ (Arbeiter-Zeitung, 2. Mai 1911, S. 1)

Abb. 55 Blick in die bessere Zukunft

Die Maifeier wurde in dieser Perspektive auch als ein Blick in die Zukunft, als eine Art „sozialistischer Augenblick“ inszeniert, der den Arbeiterinnen/den Arbeitern den Weg in ein besseres Diesseits, eine gerechtere und lebenswerte Zukunft für die nächsten Generationen weisen sollte. Dieser hoffnungsvolle Blick in die bessere Zukunft, das Vertrauen auf Heil und Erlösung in einer besseren, gerechteren Welt „ließen die sozialistischen Maifeiern in einer Atmosphäre des Messianismus ablaufen.“ (Cazzola 1981, 19)

Religiöse Gefühle, teils in Anlehnung, teils als Alternative zu christlichen, insbesondere aber zu messianischen Traditionen, wurden von den Führern der österreichischen Sozialdemokratie durchaus bewusst in der politischen Festliturgie zugelassen. Während August Bebel, der Präsident der SPD, diese „religiöse Inbrunst“ und „religiöse Schwärmerei“ als Charakteristik der Arbeiterkultur des katholischen Österreich verstand, die er für die SPD aber ablehnte, betonte Victor Adler die Notwendigkeit des bewussten Einsatzes von Gefühl als Vermittler von Ideologie und Klassenbewusstsein. Er sah darin keinen Widerspruch zur marxistischen Weltsicht und Zukunftserwartung. Als Gastredner am Berliner Parteitag 1892 führte er z.B. aus:

Der Gedanke, daß in einer Stunde, zu derselben Zeit, soweit die kapitalistische Ordnung herrscht, die Proletarier alle von einer Idee erfüllt sind, ist ein viel tieferer, viel revolutionärerer als der, der allein mit dem Arbeiterschutz gegeben ist; das gleichsam religiöse Moment, das hierin liegt, dürfen wir nicht übersehen, und ich möchte Sie bitten, sich doch unsere Gegner daraufhin anzusehen. Die unterschätzen diese Gefühlsdinge wahrlich nicht ... – Wir tun sehr gut daran, unserer Bewegung ein solches Moment des Enthusiasmus einzuverleiben.“ (Adler, Victor. Aufsätze, Heft 6, S. 191, zit: nach Troch 1991, 118)

Schon im ersten Aufruf zu den Maifeiern hatte Victor Adler in der Arbeiter-Zeitung am 28.11.1889 eine ähnlich erhabene und religiöse Stimmung als Ziel dieser politischen Veranstaltung genannt: „Der 1. Mai 1890 soll der internationale Arbeiterfeiertag werden. An diesem Tage soll die Arbeit überall ruhen, in Werkstatt und Fabrik, im Bergwerk wie in der dumpfen Kammer des Hauswebers. Der Tag soll heilig sein; und heilig wirklich wird er dadurch, daß er den höchsten Interessen der Menschheit gewidmet ist.“ (Arbeiter-Zeitung, 28. November 1889, S. 4)

Adler hatte die Maifeier nicht als innerparteiliche Feier konzipiert, sondern als ein Fest der gesamten Arbeiterbewegung, das auch die weniger politisierten Arbeiterschichten ansprechen sollte. Er wollte die sozialdemokratischen Leitbegriffe „Gemeinschaft“, „Solidarität“, „soziale/gerechte Zukunft“, „Sozialismus“ in ein Massenerlebnis einbetten, und scheute sich daher auch nicht, Anlehnung an religiöse Prozessionen oder Wallfahrten zu nehmen, um den Begriffen dadurch eine „höhere Weihe“ zu verleihen.

Für Victor Adler sollte die Maifeier also zu einer Verinnerlichung des proletarischen Wertesystems beitragen und die sozialistischen Leitbegriffe im kollektiven Gedächtnis der Arbeiterschaft verankern. Die Mischung von politischer Aufklärung, Pädagogisierung der Massen und geselligem Volksfest bediente nicht nur die Vernunft, sondern war darauf bedacht, auch die tieferen Emotionen der beteiligten Arbeiterschaft zu bewegen. Diese Feststrategie wurde auch in den nachfolgenden Maifeiern bis Anfang der 1930er- Jahre, aber ebenso in den Jugendweihefesten oder in den ASKÖ-Maifestspielen im Wiener Stadion mit Kalkül in Szene gesetzt. (Rasky 1992, 43ff u. 100ff)

Wie beschrieben liefen die Erste-Mai-Feiern nach einem fixen Programm ab. Auch in diesem formalen Element ähneln die Maifeiern dem Ritus und den Zeremonien religiöser Feste. Die Betonung der gefühlvoll-feierlichen Gestaltung dieser Maiversammlungen verfestigte sich mit den Jahren, sodass insbesondere die vormittäglichen Maiversammlungen relativ gleichförmig abliefen. In diesen Maiversammlungen wurde insbesondere dem sogenannten „Maireferat“ große Bedeutung zugedacht, weshalb die dafür vorgesehenen Redner besondere Anweisungen erhielten, wie sie diese Rede zu halten hatten. Die Stimmung sollte andächtig sein, während des Referates sollte auch nicht gegessen, getrunken oder geraucht werden. Vor allem zu viel Witzigkeit oder zu starker Populismus im Stile der Volksversammlungsrede(29) sei an diesem Tage fehl am Platz. „Ein aufrichtig begeisterter, innerlich ehrlicher, schlichter ‚Referent‘ in einer Maifestversammlung wirkt tiefer, innerlicher als die teure Stimmungsmacherei raffinierter Kirchensäle."

Aufrichtig begeistert – innerlich ehrlich – feierlich schlicht: Diese Attribute der Maifeierredner charakterisieren, weit über die Maiversammlung hinaus, ein strategisches Verhalten, das den in der politischen Agitation erfahrenen Arbeiterführern der ersten Generation offenbar vertraut gewesen ist: Um polizeilicher Willkür und Schikanen weniger Angriffsfläche zu bieten, wurde allzu forsches Auftreten tendenziell zurückgenommen. Dieses mit Bedächtigkeit und Kalkül gesetzte politische Agieren scheint sich in der nachfolgenden Generation als sozialistische Tugend weiter verinnerlicht zu haben, wir können in Anlehnung an Bourdieu hier durchaus von einem „sozialdemokratischen Habitus“ sprechen: Das allzu kämpferische Auftreten wurde zurückgenommen, um weniger provokativ, dafür glaubwürdig und überzeugend zu wirken. Die Ästhetik der Arbeiterkultur(30) orientierte sich nicht wenig an den hier genannten Attributen: „Der Erste Mai sei dazu da, zu zeigen, daß das Proletariat guten Geschmack hat. Alles darf einfach, schlicht sein, aber nichts dumm-modisch, kleinbürgerlich aufgedonnert. Vernunft und Zweckmäßigkeit seien die Gradmesser proletarischer Schönheit.“ Mit diesem Anspruch ist die Ästhetik der Arbeiterfeste nicht allzu weit von den pädagogischen Konzepten der Aufklärer entfernt. Tüchtig, arbeitsam, vernünftig und diszipliniert wollten sie ihre Feste feiern, nicht mit falschem Glanz und großbürgerlichem Pomp (wie elf Jahre zuvor Aristokratie und Großbürgertum im Makart-Festzug in Wien demonstrierten).

1.16 Ausblick

Abb.56 1. Mai 1901, Einzug der Arbeiter in den Prater

Nach den ersten Jahren der Begeisterung über die grandiosen und zugleich, dem Stile der neu entwickelten Arbeiterkultur entsprechenden, disziplinierten und feierlich- schlichten Maifeiern machte sich eine gewisse Routine in der Durchführung dieser Feiern bemerkbar. Kritik blieb nicht aus. Dennoch hatte sich mit den Feiern zum Tag der Arbeit ein neuer Typ von Festkultur durchgesetzt, der weit über die bis dahin üblichen Volksfeste hinausging. Es war vor allem die Umsetzung der genuin aufklärerischen und republikanischen Prinzipien, die diesem politischen Fest seinen Platz in der Geschichte nicht nur der Arbeiterbewegung sicherte: Ganz im Sinne Rousseaus blieben die Arbeiter/innen an ihrem Feiertag eben nicht mehr in der Rolle der passiven Zuschauer/innen oder des „gaffenden Volkes“, sondern nahmen ihre Interessen aktiv wahr: Sie versammelten sich, sie artikulierten ihre Interessen, sie diskutierten, sie erlebten sich als freie Bürger/innen unter freiem Himmel – außerhalb der düsteren und dumpfen Fabrikhallen.

So wurden die Feiern zum Tag der Arbeit in den ersten beiden Jahrzehnten nach 1890 zu einer von den Arbeiterinnen/den Arbeitern bewusst aufgebauten Alternativkultur gegenüber der aristokratischen, bürgerlichen und kirchlichen Festkultur. In den Maifeiern verknüpfte sich der politische Kampf um Arbeiterschutz und soziale Gesetzgebung mit sozialutopischen Zielsetzungen, die das freie und selbstbestimmte Zusammenleben aller Menschen anstrebte. Dass diese politische Auseinandersetzung nicht in verbissenem und blutigem Straßenkampf eskalierte, sondern in Form einer kulturellen Neuschöpfung ausgetragen wurde, welche konsequente politische Aufklärung und Argumentation mit ressourcenfreundlichem, geselligem Zusammensein beim nachmittäglichen Maifest verknüpfte, gehört zu den kreativen Leistungen der damaligen Arbeiterbewegung und ihrer Führung.

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LITERATUR

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