Strategien im Zusammenhang mit Gedenken und Erinnern / 2018
Edith Blaschitz, Josef Buchner, Wolfgang Gasser, Gregor Kremser, Katharina Kreutzer, David Lackner, Bettina Paireder, Christian Rabl, Moritz Steininger, Robert Streibel, Johanna Zechner
1. Konzeptive Überlegungen zur Gestaltung didaktischer Szenarien
1848, 1918, 1938 oder 1968 – das Jubiläumsjahr 2018 bietet viele Möglichkeiten sich mit Erinnerungskultur auseinanderzusetzen: Wer erinnert an wen oder woran und in welcher Form? Sind Jubiläen ein Grund zu feiern? Erinnerungs- und Geschichtskonstruktionen beeinflussen unser Leben mehr als es uns oft bewusst ist. Von der biografischen Illusion des Individuums (Bourdieu 1990), über familiäre Geschichten und Mythen bis hin zu lokalen, regionalen und nationalen Erzählungen und Ritualen konstruieren wir uns unsere Identitäten. Ein Blick auf diese eingeübten Abläufe und Selbstbilder hilft uns zu verstehen, wie wir selbst im kommunikativen und kulturellen Gedächtnis unserer Umwelt verankert sind.
1938 kann als Traumajahr für die österreichische Zeitgeschichte bezeichnet werden. Die Volksabstimmung, die schließlich zum offiziellen „Anschluß“ Österreichs an das Deutsche Reich führte, zählt zu den Schlüsselmomenten der österreichischen Geschichte. Es folgte die sogenannte „Nachkriegslüge“ mit der das offizielle Österreich bis in die 1980er-Jahre gut leben konnte. Die daraus resultierende „Opferthese“ ermöglichte der Zweiten Republik eine günstige Verhandlungsposition im Windschatten der Moskauer Deklaration, die nur partiell wahrgenommen wurde. Der Passus von der Mitschuld Österreichs kam in der öffentlichen Wahrnehmung kaum noch vor. Daran änderte erst das offizielle Bekenntnis des österreichischen Bundeskanzlers Franz Vranitzky 1991 etwas, der in seiner Rede vor dem Nationalrat auf die Mitverantwortung Österreichs, aber auch zahlreicher Österreicher/innen an den Verbrechen des Nationalsozialismus hingewiesen hatte.
Das Jahr 1938 ist zurecht ein wichtiger Aspekt in allen österreichischen Lehrplänen im Konnex mit historischpolitischem Lernen, die Reaktionen der Bevölkerung nach dem „Anschluß“ ein Anlasspunkt für die Betrachtung unterschiedlicher Sichtweisen. Das Davor ist selbstverständlich ähnlich relevant. Die Frage nach dem „Wie konnte es soweit kommen?“ liegt auf der Hand und zeigt auf, dass Jubiläen und einzelne Daten bzw. Jahreszahlen im Kontext von historischen Betrachtungen nur einen ungenügenden Ausschnitt darstellen. Sie sind Anlass um sich mit dem Davor und dem Danach zu beschäftigen. 1918 ist das Gründungsjahr der Ersten Republik. Meist wird die Zeit bis 1938 als desaströse politische Zerfleischung der beiden großen politischen Lager geschildert. Durch das Aufzeigen weiterer Aspekte und wichtiger Entwicklungen kann hier ein differenziertes und vielschichtiges Bild gezeichnet werden. Die Auseinandersetzung mit dem Jahr 2018 als Jubiläumsjahr ermöglicht multiperspektivische Zugänge und die Verknüpfung der Jahreszahlen an sich mit ihren Vor- und Nachgeschichten, die unterschiedlich transportiert wurden und werden.
Wenn Schüler/innen unterschiedliche Zugänge zum Thema „Erinnern“, aber auch „Vergessen“ in Zusammenhang mit historischen Ereignissen und Jubiläen wie 1938 vergleichen bzw. diese erarbeiten, so kann daraus eine vielschichtige Beschäftigung mit historischen Narrativen entstehen. Wie haben sich etwa Denkmäler oder Mahnmale inhaltlich und ästhetisch verändert? Welcher Gruppen wurde und wird in welcher Form gedacht und wer hielt bzw. hält dieses Andenken lebendig? Welche Erzählungen stecken hinter diesen Zeichen und welche Strategien werden damit verfolgt? Nähe kann vor allem auch durch die Beschäftigung mit lokalhistorischen Quellen geschaffen werden. Scheinbar fixe Opfer- und Täterkategorien können durch Fallbeispiele aufgebrochen werden. Unterschiedliche Betrachtungen zu den angesprochenen zeitgeschichtlichen Aspekten manifestieren sich aber auch in Spielfilmen mit denen Schüler/innen in ihrer Lebensrealität konfrontiert sind. Eine kritische Auseinandersetzung damit ist ebenfalls Teil historisch- politischen Lernens. Wie können die Potenziale von digitalen Technologien, im Konkreten von Augmented Reality, ganz allgemein in der Erinnerungsarbeit bzw. zeitgeschichtlichen Vermittlungsarbeit genutzt werden? Es stellt sich die Frage, wie digitale Technologie die Vergegenwärtigung von historischen Erfahrungen und Ereignissen unterstützen können. Aber auch die persönliche Lebenswelt der Schüler/innen wird angesprochen. Welche persönlichen Erinnerungen bewahren sie für sich auf? Gibt es in speziellen Familiengeschichten Rituale und Traditionen, die von einer Generation zur nächsten weitergegeben werden? Welche Rolle spielt der Besuch von Familiengräbern? Durch Fragen wie diese werden das persönliche und familiäre Erinnern ins Bewusstsein gerufen und begreiflich gemachen. Die Beschäftigung mit Erinnerungskulturen ist nicht „überholt“, sondern Teil des kollektiven Gedächtnisses.
- Die Beschäftigung mit unterschiedlichen Strategien im Umgang mit Erinnerung zeigt politische und historische Bruchlinien auf und kann so zum tieferen Verständnis der jüngeren Geschichte Österreichs beitragen. Formen der Instrumentalisierung können aufgezeigt und beispielhaft behandelt werden.
- Die emotionale Komponente, die mit dem Thema „Erinnern und Gedenken“ verbunden ist, kann als Chance begriffen werden, sich mit konkreten Aspekten von Erinnerungskulturen in Geschichte und Politischer Bildung auseinanderzusetzen.
- Erinnerungszeichen, Gedenkorte oder Denkmäler, aber auch Jubiläen sind Anlässe für diskursive Prozesse, die für unterschiedliche Lernszenarien genutzt werden können.
- Lokalgeschichtliche Zugänge können ebenso im Zusammenhang mit Erinnerungskulturen beleuchtet werden wie makrogeschichtliche Zusammenhänge und Ereignisse. Anhand von Fallbeispielen können Initiativen gesetzt und innovative Formen der Präsentation und Dokumentation erprobt werden.
2. Implementierung des Kompetenzmodells
Durch Rekonstruktionen eigener Familiengeschichten kann die Beschäftigung mit dem Thema „Erinnerungskulturen“ eingeleitet werden. Die Gegenüberstellung unterschiedlicher, sich unterscheidender Erzählungen über historische Ereignisse eröffnet differenzierte Sichtweisen und stärkt die Schüler/innen in ihrer historischen Orientierungskompetenz. Durch die Dekonstruktion bestehender Narrative werden sie angeregt scheinbar feststehende Sichtweisen auf zeithistorische Entwicklungen und Ereignisse zu hinterfragen und multiperspektivisch zu betrachten. Historische Methodenkompetenz wird durch die Beschäftigung mit ganz unterschiedlichen Zugängen und Medien im Zusammenhang mit Erinnerungskulturen angeregt. Auch der Umgang bzw. das Ausloten der Potenziale, die digitalen Technologien für die Erinnerungsarbeit bieten, unterstützt das Methodenrepertoire der Schüler/innen. Hier kommt – teilweise auch in bewussten Überschneidungen – die politikbezogene Methodenkompetenz zum Tragen. Wie gehen und gingen offizielle Institutionen wie der Staat, politische Vertreter/innen und Parteien oder bekannte Persönlichkeiten mit dem Thema Erinnerungskulturen um? Durch die aktive Analyse, den Vergleich und unterschiedliche Fragen an das komplexe Thema wird die historische Fragekompetenz angeregt. Es geht nicht um das Erlernen von Jahreszahlen und Daten, sondern um das Hinterfragen, welche Jubiläen Bedeutung haben, für wen und warum. Die Schüler/innen werden dazu motiviert anhand konkreter Ereignisse oder sichtbarer Zeichen wie Denkmäler die Entstehung aber auch die Rezeption derselben zu rekapitulieren und Schlüsse daraus zu ziehen. Diese Vorgangsweise führt letztlich zur Schärfung politischer Urteilskompetenz. Die Auseinandersetzung mit dem Thema Erinnerungskulturen kann aber auch aktive Komponenten beinhalten. Die Organisation von Gedenkveranstaltungen oder anderen Aktionen kann bei Schülerinnen/Schülern eine tiefere Verbundenheit mit dem Thema hervorrufen und sie in ihrer politischen Handlungskompetenz stützen, indem historische Themen auch politische Relevanz erlangen und die Schüler/innen Stellung beziehen müssen.
3. Lernziele
Durch die Beschäftigung mit unterschiedlichen Materialien und Zugängen zum Thema „Erinnerungskulturen“ können die Schüler/innen …
- Jubiläen aus verschiedenen Perspektiven heraus betrachten und hinterfragen.
- verschiedene, darunter auch künstlerische Zugänge, zur Thematik kennenlernen, vergleichen und analysieren.
- Strategien des Gedenkens beschreiben und daraus eigene Fragestellungen und Beurteilungen ableiten.
- anhand von Einzel- und Fallbeispielen lokal- und mikrogeschichtliche Ereignisse, Prozesse und Gegebenheiten in einen größeren Kontext von Erinnerungskulturen einordnen und bewerten.
- die Potenziale verschiedener Medien im Zusammenhang mit Erinnerungsarbeit ausloten und erproben.
- Narrative und Rituale kollektiver Erinnerung hinterfragen und in einen zeithistorischen Kontext einordnen.
- die wichtigsten erinnerungspolitischen Ereignisse zur österreichischen Geschichte nach 1945 einordnen und diese dem Opfermythos der Zweiten Republik zuordnen.
- persönliche und familiäre Bezüge zum kommunikativen Gedächtnis und ihre unterschiedlichen Kommunikationsformen benennen.
- zwischen individuellen und kollektiven Aspekten des Erinnerns unterscheiden.
4. Lehrplanbezug
Grundsatzerlass zur Politischen Bildung für alle Schultypen und Unterrichtsfächer der Sekundarstufe I und II
AHS (Unterstufe) / NMS, LP 2016
• 4.Klasse, Modul 1 (Historische Bildung): Faschismus – Nationalsozialismus – politische Diktaturen
Kompetenzkonkretisierung: Schriftliche und bildliche Quellen beschreiben, analysieren und interpretieren; Perspektivität von Quellen wahrnehmen; Erkenntnisse aus Quellenarbeit oder Arbeit mit Darstellungen für individuelle Orientierung nutzen;
Thematische Konkretisierung: Ausgewählte Aspekte faschistischer bzw. diktatorischer Systeme im Europa des 20. Jahrhunderts vergleichen und Strukturmerkmale herausarbeiten; Grundlagen, Voraussetzungen und Auswirkungen des Nationalsozialismus in Österreich analysieren; Historische Alltagswelten in Demokratie und Diktatur vergleichen; Geschichtskulturelle Produkte (z.B. Computerspiele oder Spielfilme) kritisch hinterfragen.
• 4.Klasse, Modul 6 (Historisch-politische Bildung): Geschichtskulturen– Erinnerungskulturen–Erinnerungspolitik
Kompetenzkonkretisierung: Quellenbezüge in Darstellungen herausarbeiten und überprüfen; Einfluss von Fragestellungen auf Darstellungen erkennen; Lokale und regionale Bezüge ableiten;
Thematische Konkretisierung: Die Instrumentalisierung von Geschichte und Erinnerungen (z.B. Geschichtspolitik, Habsburgermythos, Tourismus, Produktwerbung) analysieren; Denkmäler, Gedenkstätten und Zeitzeugenberichte (Videoarchive) analysieren und kontextualisieren; Öffentliche Erinnerungskulturen zum Holocaust und zum Zweiten Weltkrieg analysieren sowie die historischen und politischen Darstellungen zum Opfermythos de-konstruieren.
AHS (Oberstufe), LP 2016
• Die Schülerinnen und Schüler sollen befähigt werden, Sachverhalte und Probleme in ihrer Vielschichtigkeit, ihren Ursachen und Folgen zu erfassen und ein an den Menschenrechten orientiertes Politik- und Demokratieverständnis zu erarbeiten. Dies verlangt eine entsprechende Praxismöglichkeit im Lebens- und Erfahrungsbereich der Lernenden.
• Geschichte und Sozialkunde/Politische Bildung soll über fundiertes Wissen zu einem reflektierten und (selbst)reflexiven historischen und politischen Bewusstsein führen. Das Verstehen historischer Entwicklungen und Handlungsweisen und die wertschätzende Auseinandersetzung mit dem Eigenen und dem Fremden sollen zum Abbau von Vorurteilen, zur Entwicklung von Toleranz und integrativem und verantwortungsvollem Handeln führen.
• 7. Klasse, Kompetenzmodul 5
Historische Fragekompetenz: Eigenständige Fragen zu Entwicklungen in der Vergangenheit formulieren
Historische Methodenkompetenz (Re- und De-Konstruktionskompetenz): Gattungsspezifik von historischen Quellen für ihre Interpretation berücksichtigen;
Themenbereiche: Politische, wirtschaftliche, kulturelle und soziale Entwicklungen vom 1. Weltkrieg bis zur Gegenwart: Nationale und internationale Politik zwischen 1918 und 1945, z.B. Friedensverträge, Krisen der Zwischenkriegszeit, Zweiter Weltkrieg; demokratische, autoritäre und totalitäre Staatensysteme und ihre Ideologien in Europa; Darstellung von Ideologien in geschichtskulturellen Produkten; nationalsozialistisches System und Holocaust; Erinnerungskulturen im Umgang mit dem Holocaust
• 7. Klasse, Kompetenzmodul 6
Historische Methodenkompetenz (Re- und De-Konstruktionskompetenz): Darstellungen der Vergangenheit kritisch systematisch hinterfragen (de-konstruieren); Aufbau von Darstellungen der Vergangenheit (zB inhaltliche Gewichtungen, Argumentationslinien, Erzähllogik) analysieren
Historische Sachkompetenz: Grundlegende erkenntnistheoretische Prinzipien des Historischen kennen und anwenden (verschiedene Perspektiven in historischen Quellen und Darstellungen identifizieren und hinterfragen/ Perspektivität; bewusste Auswahlentscheidungen hinsichtlich Themen, Quellen, Forschungsfragen, Zielgruppen usw. in historischen Darstellungen erkennen/ Selektivität; Geschichte als eine Betrachtung, die im Nachhinein geschieht, wahrnehmen und deren Auswirkung reflektieren/ Retroperspektivität)
Historische Orientierungskompetenz: Darstellungen der Vergangenheit hinsichtlich angebotener Orientierungsmuster für die Gegenwart und Zukunft befragen; Orientierungsangebote aus Darstellungen der Vergangenheit hinterfragen und mit alternativen Angeboten konfrontieren
Themenbereiche: Veränderungen nach 1945 und ihre Auswirkungen auf den Alltag: politisches Alltagsverständnis;
HAK
• IV. Jg., 7. Semester, Kompetenzmodul 7
Totalitäre und autoritäre Systeme: Faschismus, Nationalsozialismus, Austrofaschismus, Realer Sozialismus, Militärjuntas; Eskalation politischer Auseinandersetzungen: Krieg, Bürgerkrieg und Genozid, der Mensch im Krieg, Holocaust
• IV. Jg., 8. Semester, Kompetenzmodul 8
Kunst als Ausdrucksform der gesellschaftlichen Entwicklung und des Zeitgeistes
HLW
• Jg. 4, 7. Semester: Österreich 1918 bis 1945.
Totalitäre Ideologien: Entstehung, Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Faschismus, Nationalsozialismus, Kommunismus. Verfolgung, Holocaust, Widerstand. Zweiter Weltkrieg und seine direkten Folgen.
HLM
• Jg. 3, 6. Semester – Kompetenzmodul 6: Österreich 1918 bis 1945. Totalitäre Ideologien (Entstehung, Gemeinsamkeiten und Unterschiede). Verfolgung, Holocaust, Widerstand.
• Jg. 4, 7. Semester – Kompetenzmodul 7: Zweiter Weltkrieg und seine unmittelbaren gesellschaftspolitischen Folgen. Österreich ab 1945.
HTL
• Geografie, Geschichte und Politische Bildung, V. Jg.: V. Jahrgang
Tendenzen und Entwicklungen im 20. Jahrhundert – die Zeit vor 1945: Russische Revolution. Neuordnung Europa; totalitäre Ideologien und Systeme (Politik, Verfolgung, Widerstand); Krise der Demokratien; Völkerbund; außereuropäische Entwicklungen; Zweiter Weltkrieg; Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur (Inflation, Weltwirtschaftskrise, Wirtschaftslenkung, Wissenschaft, Technik); Entwicklung in Österreich (Innenund Außenpolitik der 1. Republik, NS-Zeit).
BAFEP
• 8. Semester (Kompetenzmodul 8):
Zwischenkriegszeit, Faschismus, Nationalsozialismus, Kommunismus, der Zweite Weltkrieg, politische Bildung sowie aktuelle fachspezifische Entwicklungen