Editorial
Bettina Paireder
Das Jahr 2018 war offiziell von der Regierung der Republik Österreich als Gedenk- und Erinnerungsjahr ausgerufen worden. In Folge wurde per Verordnung die Einrichtung eines „Beirats für das Gedenk- und Erinnerungsjahr 2018“ geregelt. (BGBl. II Nr. 256/2016) Die Website des Bundeskanzleramtes titelte in diesem Zusammenhang „100. Jahrestag der Gründung der Republik“ (Bundeskanzleramt Österreich, 2018a) und Bundespräsident a.D. Heinz Fischer sprach in einem auf dieser Website implementierten Video von „zwei Hauptgedenkdaten – nämlich der Gründung der Republik und dem sogenannten „Anschluß“ Österreichs an Hitlerdeutschland“. (Bundeskanzleramt Österreich, 2018b) Etwa 200 Veranstaltungen sollen von dem Beirat für das Gedenk- und Erinnerungsjahr 2018 koordiniert worden sein. In dieser formalisierten Form wird der Begriff des Erinnerns in den Dienst eines Kollektivs gestellt und politisch institutionalisiert. Es gibt ein Programm, woran erinnert werden soll, in welcher Form diese Erinnerung organisiert wird, wer zum Erinnern eingeladen wird, wann und wo Festakte zur Erinnerung stattfinden. Dem Vergessen soll bewusst entgegengesteuert werden. Es wird ein kollektives Gedächtnis – in diesem beschriebenen Fall ein kollektives nationales Gedächtnis – konstruiert, das dem nationalen Narrativ entspricht.
Chronologisch betrachtet könnte das Jahr 2018 ebenso an zahlreiche andere Ereignisse „erinnern“. Einige Beispiele seien hier genannt:
• 370 Jahre seit dem Ende des Dreißigjährigen Kriegs
• 170 Jahre seit den Revolutionen des Jahres 1848
• 100 Jahre seit dem Ende des Ersten Weltkriegs
• 80 Jahre seit der Inbetriebnahme des „Konzentrationslagers“ Mauthausens
• 70 Jahre seit der Deklaration der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen
• 50 Jahre seit den Revolutionen von 1968
Die Auflistung ließe sich noch weiter fortsetzen und durch ganz anders orientierte Ereignisse wie beispielsweise den 90. Geburtstag der Comicfigur „Mickey Mouse“ oder das 200 Jahr-Jubiläum seit Franz Xaver Gruber das Gedicht seines Freundes Joseph Mohr „Stille Nacht – Heilige Nacht“ vertont hatte, ergänzen. Was aus dieser Auflistung ersichtlich wird, ist, dass andere Ereignisse und Jubiläen im Vordergrund stehen würden, wenn sie aus Sicht einer anderen Nation, eines anderen Kontinents, einer bestimmten Gruppe von Personen, eines einzelnen Individuums usw. erstellt werden würden. (1) Allerdings wäre so eine Auflistung aus geschichtsdidaktischer Perspektive nutzlos, wenn nicht die Historiker/innen diese Ereignisse anhand von Quellen und quellenkritischen Analysen einer spezifischen Deutung zuführen und daraus eine sinnbildende Darstellung erzeugen würden. Erinnern ist ein Prozess im Gehirn, der, um die Worte Hans-Jürgen Pandels zu benutzen, „Verformungsfaktoren und Gedächtnismodulationen“ unterliegt. (Pandel 2017, 41f.) Erinnerung ist nie ein 1:1-Abbild des Geschehenen. Wenn wir Geschichte so verstehen, wird klar, dass wir uns nicht an die Ereignisse, denen ein Gedenkjahr Aufmerksamkeit schenkt, „erinnern“, sondern dass diese Ereignisse vielmehr unter einer spezifischen Perspektive beschrieben werden und damit Geschichte erzeugt wird.
„Erinnerung“ transferiert vergangenes Geschehen in die Gegenwart. Sie dient in autobiogra(scher Form der persönlichen Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit und trägt zur Sinnbildung von vergangenen Ereignissen bei. Dadurch bildet sie die Basis für die Entwicklung von historischer Identität. (Rüsen 2013, S.266) Noch deutlicher wird der Prozess der Sinnbildung in kultureller und politischer Dimension, wo „Erinnerung“ absichtsvoll und konstruktiv „produziert“(2) wird, denn die wenigsten können sich an das ins Zentrum gestellte Ereignis tatsächlich „erinnern“. Diese bewusst gesteuerte Konstruktion von Erinnerungskultur unterliegt vielschichtigen Einflüssen von Medien und staatlichen bzw. gesellschaftlichen Institutionen und kann zu einem machtvollen Motor in der Entwicklung von nationalen Identitäten werden. Dennoch: Es ist nicht die Erinnerung an sich, sondern die Auseinandersetzung mit historischen Ereignissen, die im Zentrum steht und die letztlich zu Ge-schichtsbewusstsein führt – individuell oder kollektiv, unbewusst oder gesteuert.
In diesem neunten Heft der Reihe „historisch-politische bildung“ wollen wir Erinnerung als vielschichtigen Begriff dekonstruieren und Erinnerungskultur in ihren unterschiedlichen Dimensionen beleuchten. Dies erklärt auch den Titel „Erinnerungskulturen“.
David Lackner setzt sich in seinem Artikel mit dem Begriff „Erinnerungskulturen“ vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus auseinander und entwirft ein Bild von politisch/ staatlicher, gesellschaftlich/privater und wissenschaftlich/ bildender Aufgabe von „Erinnerung“. Er vergleicht die „Erinnerungsarbeit“ in den Gedenkstätten Buchenwald, Dachau und Mauthausen und zeigt unterschiedliche Konzepte des Umgehens mit vergangenen Geschehnissen auf.
Es folgen Beiträge zu regionaler „Erinnerungsarbeit“ in Niederösterreich. Christian Rabl widmet sich in seinem Artikel dem Areal des ehemaligen KZ-Außenlagers Melk und stellt die Initiative „MERKwürdig“ vor. Robert Streibel geht auf das Spannungsfeld „Erinnern und Vergessen“ ein, indem er über das ehemalige Kriegsgefangenenlager STALAG 17B berichtet. Wolfgang Gasser präsentiert das Sparkling Science Projekt „Geschlossene Anstalt?“, durchgeführt vom Institut für jüdische Geschichte Österreichs in Zusammenarbeit mit zwei niederösterreichischen Schulklassen, das sich mit der Geschichte der „Heil- und Pflegeanstalt Mauer-Öhling“ auseinandersetzt.
Wie vielfältig Erinnerungskultur sein kann, verdeutlichen drei Artikel, die sich unterschiedlichen Formen von „Erinnerungsarbeit“ widmen. Katharina Kreutzer setzt sich mit der Kraft der Bilder auseinander und setzt Filme und Filmvermittlung in Bezug zu „Erinnerungskultur“. Edith Blaschitz und Josef Buchner beschreiben Augmented Reality als vielversprechende digitale Technologie für den Einsatz von Gedenk- und Vermittlungsarbeit. Johanna Zechner widmet sich in ihrem Beitrag der Kunst im öffentlichen Raum. Sie präsentiert am Beispiel des Museums ERLAUF ERINNERT den Versuch zeithistorische Forschung mit zeitgenössischer Kunst zu verbinden.
Gregor Kremser stellt seine Forschungsergebnisse einer Zeitungsanalyse zur Darstellung des „Anschlußes“ in den Lokalmedien der niederösterreichischen Stadt Krems vor und versucht auf diese Weise „Erinnerung“ kritisch zu hinterfragen. „Erinnerungskultur“ beeinflusst die Konstruktion eines kollektiven Gedächtnisses und kann so auch zur Mythenbildung (Stichwort „Opferthese“) beitragen.
Ähnlich vielfältig wie die Aufsätze dieses Themendossiers sind auch die Unterrichtsbeispiele. Sie rücken für die Schüler/innen den Unterschied zwischen individuellem und kollektivem Gedächtnis in den Blick, lassen sie mit Jubiläen und Gedenkdaten auseinandersetzen, bringen sie mit Archivforschung, Oral History, Geschichte im öffentlichen Raum, Erinnerungskultur in Form von Literatur und Film in Verbindung. Wie immer dienen die Unterrichtsbeispiele dieser Heftreihe als Vorschläge und Anregungen, die je nach Klassengruppe und Lernfortschritt prozessorientiert angepasst werden sollten.
Aufbau der Themendossiers
Die Themendossiers werden von interdisziplinär zusammengesetzten Teams nach dem Konzept der prozessorientierten Geschichtsdidaktik entwickelt. Sie bieten den Schülerinnen/ Schülern vielfältige Möglichkeiten strukturelles Denken zu entwickeln, darüber zu reflektieren und eigenverantwortlich in neuen Situationen anzuwenden. Sie sind theorie- und forschungsgeleitet, prozessorientiert, medial unterstützt sowie von der 8. bis zur 13. Schulstufe modular einsetzbar. Entsprechend dieser Konzeption enthält das vorliegende Themendossier zum einen fachwissenschaftliche Einführungstexte für Lehrer/innen. Zum anderen eröffnen fachdidaktische Anregungen Möglichkeiten zur Thematisierung einzelner Teilaspekte der Erinnerungskultur im Unterricht. Neben der prozesshaften Beschreibung eines möglichen Unterrichtsablaufs wird in jedem Beispiel eine Möglichkeit der Ertragssicherung und der Rückkoppelung angeboten. Auf genaue Vorgaben von Stundenbildern ist bewusst verzichtet worden, die Unterrichtsvorschläge zeigen vielmehr exemplarisch Wege auf, wie die Themenbereiche und Arbeitsaufgaben an die jeweilige Zielgruppe angepasst werden können. Dabei ist großer Wert auf Praxisnähe gelegt worden.
Die Redaktion hofft, dass das vorliegende neunte Heft der Themendossiers eine sinnvolle Bereicherung für die Planung und Durchführung des historisch-politisch bildenden Unterrichts darstellt. Über Ihre Anregungen und kritischen Ergänzungen freut sich die Redaktion (p.A. hanna-maria. suschnig@univie.ac.at / bettina.paireder@uni-graz.at).
LITERATUR
BGBl. II Nr. 256/2016. Zugriff am 6. Jänner 2019 unter www.ris.bka.gv.at/eli/bgbl/II/2016/256.
Bundeskanzleramt Österreich (2018a). 100. Jahrestag der Gründung der Republik. Zugriff am 6. Jänner 2019 unter www.bundeskanzleramt.gv.at/100-jahre-republik.
Bundeskanzleramt Österreich (2018b). 100. Jahrestag der Gründung der Republik – Bundespräsident a.D. Heinz Fischer. Zugriff am 6. Jänner 2019 unter youtu.be/8L-yyLvwqQk.
Pandel, Hans-Jürgen (2017). Geschichtstheorie: Eine Historik für Schülerinnen und Schüler – aber auch für ihre Lehrer. Schwalbach/Ts: Wochenschau.
Rüsen, Jörn (2013). Historik. Theorie der Geschichtswissenschaft. Köln, Weimar, Wien: Böhlau.
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