Auswanderung von Österreicherinnen/Österreichern in die USA


Tina Gusenbauer, Katharina Petrin, Oliver Rathkolb, Florian Wenninger

 

1. Wer ist „Österreicher/in“?

Eine Darstellung der „österreichischen“ Auswanderung für die Zeit vor 1914 ist schon deshalb nicht ganz einfach, weil dabei keine Rücksicht auf die Selbstwahrnehmung der Einwanderinnen/Einwanderer genommen würde. Als „Österreicher/in“ müsste man nämlich naheliegenderweise jene Staatsbürger/innen der Habsburgermonarchie fassen, die auf dem Gebiet der heutigen Republik Österreich lebten. Tatsächlich verstanden sich diese Menschen aber zumeist nicht als „Österreicher/innen“,von viel größerer Bedeutung war die Herkunft aus einem bestimmten Bundesland oder einer Stadt. Einmal in Amerika eingewandert verstärkte sich diese Tendenz. Befragt, woher sie stammten, hätten viele Einwanderinnen/Einwanderer demnach geantwortet: „Aus Tirol, Kärnten, Salzburg oder aus der Steiermark“, nicht aber: „Aus Österreich“. Manche hätten seit dem 19. Jahrhundert vielleicht gesagt, sie seien Deutsch-Österreicher/innen. Und von denjenigen, die in der letzten großen Auswanderungsbewegung, nach dem „Anschluß“ an Deutschland 1938, vor dem rassistischen Terror der Nazis flüchteten, hätten sich die meisten entweder auf ihre Heimatstadt (z.B. Wien) oder auf ihre Konfession (als Juden) bezogen, nicht aber auf ihr „Österreicher/innen-Sein“.

Abb. 3 Jerusalem Lutheran Church, erbaut von frühen Ansiedlerinnen/Ansiedlern im Jahr 1769 in Ebenezer, Georgia

2. Die Frühzeit der Einwanderung

Österreicher/innen im obigen Sinne, die in der Pionierzeit (also in den 1830er- und 1840er-Jahren) in die Vereinigten Staaten einwanderten, werden in der statistischen Forschung ebenso wenig berücksichtigt wie römisch-katholische Missionare, die vor 1819 ins Land kamen. Die ersten verfügbaren Einwanderungszahlen sind extrem niedrig und enthalten keine Hinweise auf die ethnische Zusammensetzung der Immigrantinnen/Immigranten. Zwischen 1821 und 1830 verließen insgesamt 14.255 Untertanen das Habsburgerreich in Richtung Übersee, die meisten von ihnen wandten sich nach Nordamerika. Im Rahmen der gesamten Auswanderung war das zunächst eine Minderheit. Nach mehreren Missernten war es 1816–1820 vor allem zu einer Abwanderung in den südrussischen Raum gekommen. Der Weg dorthin konnte großteils über die Donau zurückgelegt werden und war daher wesentlich leichter zu bewerkstelligen als in die Vereinigten Staaten. Zwischen 1851 und 1860 schwoll die Emigration nach Übersee auf 27.045 Personen an und ging für den Zeitraum von 1861 bis 1866 auf 14.693 zurück. Bis dahin hatten größere Gruppen von Auswanderungswilligen Österreich nur im Zusammenhang mit drastischen religiösen Säuberungen verlassen, so etwa nach dem Vorgehen der römisch-katholischen Obrigkeit gegen Protestantinnen/Protestanten in Salzburg im Jahr 1731. Angeblich wanderten damals 30.000 Menschen in deutsche Länder aus, etwa 50 Salzburger Familien schafften es aber, nach Amerika zu gelangen. Dort ließen sie sich in Ebenezer, Georgia nieder und gingen unter der Führung des Geistlichen Johann Martin Boltzius – zunächst durchaus erfolgreich – daran, ein „religiöses Utopia an der Grenze Georgias“ zu errichten. Vier Jahre später, im Winter 1735/36 folgten ihnen 80 weitere Salzburger/innen.

Die Gründe für Emigration waren auch politischer Natur. Nach der Niederlage der demokratischen Revolution Revolutionärinnen/Revolutionäre der Verfolgung durch Auswanderung nach Amerika. Anders als im Falle Deutschlands, das die geschlagenen Revolutionärinnen/Revolutionäre in Scharen verließen, handelte es sich bei den österreichischen Flüchtlingen vorwiegend um zwei kleine Gruppen von insgesamt 66 Männern und 2 Frauen. Religiöser Druck führte in diesen Jahren zu einer zweiten Auswanderungswelle von Protestantinnen/Protestanten aus Oberösterreich, Tirol und Kärnten. Umgekehrt leisteten österreichische katholische Missionare einen Beitrag zur Entwicklung der römisch-katholischen Kirche in Amerika.

Österreicher/innen fanden sich im frühen 19. Jahrhundert über ganz Amerika verteilt, sie bildeten aber keine ethnischen Gemeinschaften. Einzelne Einwandernde, wie die Ankömmlinge nach der Revolution von 1848, tendierten dazu, sich in Städten niederzulassen, zum Beispiel in New York oder in Cincinnati, St. Louis und Milwaukee.

Dort bildeten die „Forty-Eighters“ ein Eliten-Netzwerk, das eine rege politische, kulturelle und publizistische Aktivität entfaltete. Ihr Blick auf Österreich war weitgehend frei von Wehmut. Sie empfanden mehrheitlich keinerlei tiefe Verbundenheit zu ihrem Herkunftsland, vielmehr war ihr Bild von Österreich geprägt von negativen politischen und religiösen Wahrnehmungen, seien es absolute Monarchie und Polizeistaat oder die alles ominierende katholische Kirche. Im demokratisch-republikanischen Amerika eine neue Heimat gefunden zu haben, erfüllte viele von ihnen dagegen mit Stolz. Die positive Wahrnehmung von „Auswanderung“ bzw. von „Amerika“ führte auch in der alten Heimat dazu, dass beide Begriffe zu Synonymen für „Freiheit“ bzw. für „ein besseres Leben“ wurden.

Es gab auch eine kleine Gruppe von Bauersleuten (z.B. aus Vorarlberg, 1850–1870), die aus ökonomischen Gründen ihrer Heimat den Rücken kehrten. Sie hatten von der Kolonisation der Midlands und der Westküste gehört und wanderten in der Hoffnung, ebenfalls Neuland bewirtschaften zu können, in die USA aus. Überwiegend stammten sie aus kinderreichen Familien der ländlichen Unterschicht, diezu Hause ein Leben als Knecht oder Magd erwartete. Die Auswanderung ist ein klassisches Beispiel einer Kettenmigration: Einzelne brechen als Pioniere auf, erkunden die Verhältnisse in der Fremde und holen dann Schritt für Schritt andere nach. Gemeinsam bildeten sie in der neuen Heimat eine mehr oder weniger geschlossene Gemeinschaft. Die Inseln der Vorarlberger konzentrierten sich von Anfang an auf Dubuque (Iowa), Fremont (Ohio), Erie (Pennsylvania),Akron (Ohio) und St. Louis. Nach 1870 fanden sich einzelne ursprünglich aus Österreich stammende Siedler/innen in den Dakotas, in Nebraska, Colorado und Idaho, später auch in Kalifornien, Oregon und im Bundesstaat Washington.

Abb. 4 Auswanderer auf einem Schiff der Austro Americana in Triest (1900-1910)

3. Einwanderung ab 1867

3.1 Statistische Details

Während Menschen bis dahin Österreich entweder illegal oder ausgestattet mit Sondergenehmigungen verlassen hatten, wurde 1867 in Österreich-Ungarn das Recht auf Auswanderung proklamiert. In den darauf folgenden 43 Jahren, bis 1910 wanderten insgesamt fast drei Millionen von Habsburgs Untertaninnen/Untertanen in die Vereinigten Staaten aus: 1,531.382 Bewohner/innen der cisleithanischen und 1.422.205 der transleithanischen Staatshälfte. Wenigstens für den Zeitraum 1901–1910 stehen die Zahlen für die österreichische und ungarische Reichshälfte in ethnisch aufgeschlüsselter Form zur Verfügung. Mit 11,8% waren die Deutschsprachigen stark unterrepräsentiert, verhältnismäßig wenige Auswanderinnen/Auswanderer stammten bis dahin also aus dem Gebiet der heutigen Republik Österreich. Die meisten Migrantinnen/Migranten gaben als Nationalität polnisch an (18,6%), gefolgt von serbisch, kroatisch und slowenisch (zusammen 16,1%), slowakisch (15,4%), ungarisch (14,7%) und jüdisch (7,1%). Vor ihrer Auswanderung hatten diese Menschen vornehmlich in Galizien und der Bukowina gelebt, ebenso in slowakischsprachigen Teilen Ungarns, in Mittel- und Ostungarn und in Kroatien, Slowenien und Bosnien. Es handelte sich also vor allem um Menschen aus strukturschwachen Regionen, die eventuell zusätzlich noch unter einer Diskriminierung aufgrund ihrer Nationalität zu leiden hatten.

Aus diesem Sample der Einwanderung in die USA aus Österreich-Ungarn in den Jahren 1901–1910 ist ersichtlich, dass der Anteil an landwirtschaftlichen Arbeitskräften, der ursprünglich (1876–1910) 45,4% betragen hatte, auf 19,5% sank, während die Gesamtzahl von Handwerkstreibenden und im Handel Tätigen auf 15,9% stieg. Auf dem Höhepunkt der Auswanderung waren zwei Drittel der Auswandernden Männer und 82 Prozent zwischen 14 und 45 Jahre alt. Nicht alle von ihnen planten, ihre Heimat dauerhaft zu verlassen, viele verstanden sich wohl als das, was Jahrzehnte später „Gastarbeiter/in“ genannt werden sollte Sie hofften auf bessere Verdienstmöglichkeiten in den Vereinigten Staaten und wollten früher oder später zurückkommen. Die Rückwanderung sah aber je nach ethnischer Gruppe verschieden aus. Zwischen 1908 und 1913 betrug der Prozentsatz der Rückwandernden ungefähr 38,7% (460.000 Menschen). Die Rückwanderungsquoten waren am höchsten bei den Polinnen/Polen, am niedrigsten bei den Deutsch-Österreicherinnen/Deutsch-Österreichern. Bis zu einem gewissen Grad ist die jeweilige Absicht, dauerhaft in den Vereinigten Staaten zu bleiben oder nach Möglichkeit zurückzukehren, aus der Zusammensetzung der auswandernden Gruppen herauszulesen: deutsch-österreichische, tschechische und jüdische Gruppen bestanden neben Männern meist auch aus deren Familienangehörigen. Bei polnischen, rumänischen, serbischen, kroatischen und russischen Gruppen handelte es sich dagegen zumeist um alleinreisende Männer.

Der größte Push-Faktor für die massenhafte Auswanderung aus Teilen des Habsburgerreiches in die Vereinigten Staaten an der Wende zum 20. Jahrhundert war die wirtschaftliche Not, die in weiten Teilen der Monarchie herrschte, vor allem in ländlichen Gebieten. Infolge der Industrialisierung waren gerade die ohnedies kargen Löhne von ungelernten Arbeiterinnen/Arbeitern weiter gesunken und reichten kaum aus, um sich ganzjährig satt zu essen, geschweige denn, um nicht-(mehr)-arbeitsfähige Familienmitglieder mitzuernähren.

Pull-Faktor war hingegen der in den USA herrschende Arbeitskräftemangel: Tabakarbeiter/innen konnten dort das Dreifache von dem verdienen, was sie zu Hause bekamen. Ähnlich sah es für Landarbeiter/innen aus, von denen so manche/r wohl die Hoffnung hegte, von den (bürgerlichen) Farmerinnen/Farmern in der neuen Welt eher als vollwertiger Mensch behandelt zu werden als von den (oftmals aristokratischen) Großgrundbesitzerinnen/Großgrundbesitzern in der Heimat.

Zwischen 1908 und 1911 geriet die Wirtschaft in den USA ins Stocken. Die Folge war ein Einbruch auf dem Stellenmarkt für ungelernte Arbeiter/innen, der seinerseits zu einem Rückgang der Einwanderung führte. Die Binnenmigration in Richtung urbane Zentren – Wien, Budapest, Prag – war daher in dieser Vorkriegsphase wesentlich stärker als die Auswanderung nach Übersee.

Nach dem Ersten Weltkrieg führten die Vereinigten Staaten ein Quotensystem ein, das eine großzügige Einwanderung aus Österreich behinderte. Zwischen 1921 und 1924 fanden aufgrund des 3%-Quotensystems (basierend auf dem Zensus der Vereinigten Staaten von 1890) nur 7.342 Menschen Aufnahme. Zwischen 1924 und 1929 erhielten nur 785 Menschen pro Jahr ein Einwanderungsvisum und von 1929 bis 1939 war die jährliche Quote auf 1.413 Einwandernde beschränkt. 5.000 österreichische Staatsbürger/innen waren im Jahr 1931 für Einwanderung in die Vereinigten Staaten vorgemerkt. In Anbetracht der wirtschaftlichen und sozialen Katastrophe in Folge des Zusammenbruchs des Habsburgerreiches, mit extrem hoher Arbeitslosigkeit in den 1920er- und besonders in den 1930er-Jahren, war Auswanderung ein offenbar ungeeignetes Mittel zur Lösung der österreichischen Probleme. Auch die Vereinigten Staaten hatten mit schweren wirtschaftlichen und sozialen Problemen zu kämpfen. Außerhalb des Quotensystems förderten die USA nach Kräften eine sich selbst generierende Einwanderung. Dies bedeutete, dass für ethnische Gruppen wie die Burgenländer/innen, die über funktionierende wirtschaftliche und soziale Netzwerke verfügten, die Möglichkeit bestand, ihre Freundinnen/Freunde und Familienmitglieder in die Vereinigten Staaten nachziehen zu lassen. Diese Gruppen waren ursprünglich wenigstens zum Teil als Landsmannschaften mit Gemeinschaftsstrukturen organisiert, für die die Religionszugehörigkeit oder die ursprüngliche regionale Herkunft der Einwandernden maßgeblich war (z.B. jüdische Gruppen aus dem Gebiet des Habsburgerreiches und Gruppen aus österreichischen Bundesländern wie Steiermark, Tirol, Vorarlberg oder Wien).

Vor 1914 wanderten 33.000 Menschen aus dem späteren Burgenland (damals Deutsch-Westungarn) in die USA ein. Diese Gruppe funktionierte als relativ geschlossene Gemeinde. Mehr als 60,7% der Eheschließungen fanden (z.B. in New York) innerhalb ihres ethnischen Netzwerks statt, verglichen mit 37,2% innerhalb anderer deutschsprachiger Gruppen aus Österreich. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und der Errichtung des Bundeslandes Burgenland konnte diese Gruppe ihren inneren Zusammenhalt sogar noch verstärken und gründete 1922 die deutschsprachige Zeitung „Eintracht“ mit einer Auflage von 4.000 Exemplaren. Diese Zeitung galt als die „unabhängige Stimme der Österreicher, Burgenländer und Deutsch-Ungarn in Nordamerika“. Insgesamt zog es zwischen 1920 und 1938 24.300 Burgenländer/innen nach Nordamerika, von denen allerdings 14,4% wieder nach Europa zurückkehrten.

Eine weitere österreichische Gruppe, der die Bildung lokaler Gemeinden gelang, sind die Vorarlberger/innen. 6.000 zogen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in die Vereinigten Staaten.

Zwischen 1919 und 1937 verließen laut österreichischen Quellen 34.014 Österreicher/innen das Land, um in die Vereinigten Staaten zu ziehen. Allgemein lässt sich sagen, dass sich die österreichische Auswanderung nach Übersee stärker diversifiziert gestaltete als früher: Südamerika zog als Ziel mit der US-Quote nahezu gleich (15.341 Personen gingen nach Brasilien und 11.260 nach Argentinien). Dazu kamen noch 5.423 Menschen, die von Österreich nach Kanada auswandert.

Abb. 5 Auswandererschiff "Samuel Hop" Zwischendeck

Abb. 6 Auswandererschiff RMS Carpathia

3.2 Exkurs: eine teure, gefahrenvolle Reise

Wie kamen einfache, häufig des Lesens kaum mächtige Menschen auf die Idee, nach Amerika auszuwandern? Und wie gelangten sie dorthin? Bis in die 1830er-Jahre war die Auswanderung ein individuelles Wagnis, das meist Gruppen junger Männer auf sich nahmen. Ihr Wissen über Amerika beschränkte sich oft auf Erzählungen und Gerüchte, in denen zwei Informationen eine besondere Rolle spielten: dass in den Vereinigten Staaten, verglichen mit der Habsburgermonarchie, größte Freiheit herrschte und, dass es günstig oder gar umsonst Land gäbe, das darauf wartete,in Besitz genommen zu werden. Wie sie in der Fremde ihren Lebensunterhalt verdienen oder wo sie wohnen sollten, wussten die wenigsten dieser Männer. Sie machten sich mit wenig bis nichts auf den Weg zur Mittelmeer- oder Atlantikküste. Schon das war ein schwieriges Unterfangen, das oft mit großen Risiken verbunden war. Zum Verlassen des Heimatgebietes war eine Erlaubnis der jeweiligen Obrigkeit notwendig, die sich diese häufig teuer bezahlen ließ. Weil viele Menschen nicht über die notwendigen Mittel verfügten oder befürchteten, die Befugnis gar nicht zu erhalten, reisten sie illegal. Fuhrwerke oder Pferde als Verkehrsmittel waren meist unerschwinglich, als Fortbewegungsmittel standen demnach nur Lastkähne auf den großen Flüssen zur Verfügung. Den meisten Menschen fehlte die Möglichkeit zur Orientierung. Sofern sie nicht aufs Geratewohl losmarschierten, waren sie auf Führer/innen angewiesen. Deren Aufgabe war neben der Wahl der Reiseroute auch die Umgehung von Zoll- und Mautstationen, von Personenkontrollen und Militärgarnisonen. Diese frühe Form des Schlepperwesens war dem heutigen nicht unähnlich: Auf den Führerinnen/Führern ruhten alle Hoffnungen der Ausreisewilligen, manche von ihnen betrachteten ihre Arbeit tatsächlich auch als Akt der Nächstenliebe oder der Auflehnung gegen die staatliche Unterdrückung, für den sie kein oder nur geringes Entgelt verlangten. Die meisten aber sahen darin eine Möglichkeit, Geld zu verdienen und pressten die Auswandernden oft schamlos aus. Wurden die Reisenden ohne gültige Papiere aufgegriffen, waren Strafen, oft auch hohe Bestechungssummen zu bezahlen, die meist nur abgearbeitet werden konnten. Auch für Kost und Quartier konnten die meisten nicht mit barer Münze bezahlen und mussten arbeiten, wenn sie nicht stahlen und unentdeckt in Scheunen oder unter freiem Himmel schliefen.

Ausgangspunkte für die Überfahrt in die Vereinigten Staaten waren die großen Häfen, in denen die Importgüter aus Übersee gelöscht wurden: Triest und Genua, Le Havre, Hamburg und Liverpool, um nur die wichtigsten zu nennen. Der Transport von Menschen war eigentlich nicht vorgesehen, sondern stellte anfangs ein Zubrot für die Reedereien dar. Statt mit den leeren Schiffen den Atlantik zu überqueren, um neue Waren für den europäischen Markt zu holen, nahmen sie, nicht selten gegen horrende Summen, Ausreisewillige mit, die dafür Monate, oft Jahre arbeiten mussten.

Auswandernde Passagiere schliefen bis Mitte des 19. Jahrhunderts entweder an Deck oder in den engen, dunklen und stickigen Zwischendecks in Massenquartieren. Sanitäre Einrichtungen existierten nicht, für ausreichend Proviant auf der meist etwa 50 Tage dauernden Passage hatte man selbst zu sorgen. Zudem war man den barbarischen Sitten, die auf vielen der Schiffe herrschten, schutzlos ausgeliefert. Insbesondere die englischen Mannschaften, allen voran die Offiziere, waren ob ihrer Brutalität gefürchtet.

Abb. 7 Die Carpathia, ebenfalls ein Schiff auf dem vornehmlich Auswandernde reisten, barg die Ãœberlebenden der Titanic. Im Mai 1912 erreichte das Schiff den k.u.k. Adriahafen, um 1.200 Auswanderinnen/Auswanderer nach New York zu bringen

Weil sich bald zeigte, dass für die Schiffseigentümer/innen durch den stetig anschwellenden Strom an Auswandernden hohe Gewinnspannen zu erzielen waren, professionalisierte sich das Auswanderungsverfahren zusehends. Ab Ende der 1830er-Jahre existierte ein breites Netz an Maklerinnen/Maklern und Vermittlerinnen/Vermittlern, die sowohl für Reedereien als auch für Plantagen- und Fabriksbesitzer/innen in den USA arbeiteten und deren Aufgabe die Anwerbung und Weiterschleusung von Ausreisewilligen war. Ihre Methoden blieben gleichwohl häufig zwielichtig. So malten Menschen die Neue Welt in den buntesten Farben aus, verschwiegen die Mühen der Überfahrt und nützten, nachdem die Menschen sich einmal auf den Weg gemacht hatten und nicht zurück konnten, deren Lage rücksichtslos aus. Erst allmählich sah sich die Obrigkeit durch das massenhafte Elend in den Hafenstädten und in den Bäuchen der Schiffe zum Handeln genötigt und Vorschriften wurden erlassen, um das größte Elend zu verhindern. In den Häfen wurden Auskunftsbüros eingerichtet, die nicht nur beim Finden von günstigen und sicheren Herbergen bis zur Abfahrt halfen, sondern auch eine gewisse Preistransparenz gewährleisteten, um dem hemmungslosen Wucher der Reedereien entgegenzuwirken. Wichtig für die Überfahrt selbst waren vor allem Bestimmungen, denen zufolge nun die Kapitäne für die Bereitstellung ausreichenden Proviants zu sorgen hatten, um Hunger und Seuchen an Bord vorzubeugen sowie die Einführung sogenannter Sicherungsgelder. Schiffseigner/innen hatten vor dem Auslaufen für alle Passagiere eine gewisse Summe zu hinterlegen, die erst rückerstattet wurde, wenn die Betroffenen ihren Zielhafen wohlbehalten erreicht hatten. Auch die vorschriftsmäßige Ausstattung der Schiffe mit Rettungsbooten und der Erlass von Mindestraumkapazitäten pro Passagier stellten fraglos eine wesentliche Verbesserung dar, änderten in der Praxis aber nichts daran, dass die hygienischen Bedingungen auf den Schiffen nach wie vor jeder Beschreibung spotteten. Die für den Menschentransport eingesetzten Schiffe waren oft „windschiefe Seelenverkäufer/innen“, während die Importgüter in vergleichsweise soliden Kähnen transportiert wurden.

Wie wenig das Transportgut Mensch wert war, zeigte sich noch 1912, als die Titanic auf ihrer Jungfernfahrt sank. Das Schiff ging zwar als Luxusliner in die Geschichte ein, tatsächlich waren die meisten der an Bord befindlichen Menschen aber Auswandernde, die in der dritten Klasse reisten. Die Ausstattung der Titanic mit Rettungsbooten war völlig unzureichend, für knapp die Hälfte der Passagiere und Mannschaften standen gar keine Boote zur Verfügung. So überlebten zwar 70% der ersten Klasse, aber nur 32% jener Menschen, die in der dritten Klasse reisten. Von 65 Menschen an Bord, die aus der k. u. k. Monarchie stammten, reisten alle bis auf zwei in der dritten Klasse, 56 von ihnen kamen ums Leben.

Abb. 8 aktuelle Ansicht von Ellis Island

3.3 Exkurs: Ellis Island

Im Zeitraum zwischen 1892 und 1954, in den mehrere bedeutende Auswanderungswellen aus Europa fielen, fungierte die kleine, vor New York gelegene Insel Ellis Island als Nadelöhr für neuankommende Emigrantinnen/Emigranten. Nicht für Bessersituierte, wohlgemerkt: Wer als Passagier der ersten oder zweiten Klasse in den USA ankam, wurde in einem privilegierten Verfahren in Manhatten abgefertigt. Arme Einwanderer, die sich nur eine Passage der Dritten Klasse hatten leisten können, verließen ihr Schiff in Ellis Island. Hier wurden sie von Ärzten begutachtet und stellten Anträge auf Einbürgerung. Wer als krank, psychisch beeinträchtigt, zu alt oder als politisch „radikal“ galt, durfte nicht einreisen und wurde umgehend zurück an Bord des Schiffes gebracht, mit dem die betreffende Person gekommen war. Ellis Island war demnach Ort der Hoffnung für Millionen, Sinnbild für den ersehnten Beginn des Amerikanischen Traums, aber auch die „isle of tears“ („Insel der Tränen“) für viele, denen die Einwanderung verweigert wurde. Gegenwärtig hat beinahe die Hälfte aller lebenden US-Bürger/innen Vorfahrinnen/Vorfahren, die Ellis Island passiert haben.

Das ehemalige Einwanderungszentrum beherbergt heute ein Immigrationsmuseum. Jedes US-amerikanische Schulkind kennt die Bilder der Einwanderinnen/Einwanderer, die in langen Schlangen auf ihre Abfertigung durch die Einwanderungsbehörden warten, aus dem Unterricht, aber auch aus der Populärkultur, allen voran aus dem Film.

Ellis Island ist nicht nur ein amerikanischer, sondern auch ein europäischer Erinnerungsort. Hier landeten ab den 1880er-Jahren Millionen Menschen aus Deutschland, Österreich-Ungarn, Italien, den osteuropäischen Staaten, Frankreich, Großbritannien und Irland, unter ihnen auch so manche Verwandte heutiger österreichischer Jugendlicher.

Auch kann am Beispiel von Ellis Island über einen längeren Zeitraum hinweg beobachtet werden, wie sich die Einstellungen gegenüber Auswanderinnen/Auswanderern und Asylsuchenden verändert haben. Die europäische Perspektive auf die Auswanderung in die USA ist eine mehrheitlich positive (denken wir nur an das Bild vom „reichen Onkel aus Amerika“). Europäische Einwanderung hat in der allgemeinen Wahrnehmung maßgeblich dazu beigetragen, die USA politisch, technologisch, kulturell und wirtschaftlich zu einer führenden Nation zu machen. Auch in den USA selbst ist Ellis Island heute Symbol für eine positiv verstandene Gesellschaft von Einwanderung, als Ausgangspunkt einer Pioniererzählung, die das eigene Selbstverständnis nachhaltig geprägt hat.

Demgegenüber hielten sich die positiven Gefühle der meisten Zeitgenossinnen/Zeitgenossen hüben wie drüben in Grenzen. Die Vorstellung, Auswandernde blickten ausschließlich froh und zuversichtlich in die Zukunft, ist ein ebenso falsches wie häufig bemühtes Klischee. Ganz im Gesehnten sich nach ihrer gewohnten Umgebung und ihren Familien und Freundinnen/Freunden, die die meisten von ihnen nie wiedersehen würden – und sich dessen auch bewusst waren. Hinzu kam eine lange, entbehrungsreiche Reise in überfüllten, schlecht belüfteten Decks der dritten Klasse. Die hygienischen Zustände waren durchwegs unzureichend. So sagt es einiges aus, dass die Titanic auch für die Passagiere der 3. Klasse als überaus luxuriös ausgestattet galt, einfach aufgrund der Tatsache, dass auch in dieser Kategorie noch Waschgelegenheiten existierten. Kaum jemand war zuvor je auf hoher See unterwegs gewesen, praktisch alle waren phasenweise seekrank, die Unterkünfte rochen durchgehend nach Erbrochenem, zusätzlich verbreiteten die Notdurfteimer einen infernalischen Gestank. Eine Intimsphäre existierte nicht, zugleich standen kaum sinnvolle Betätigungsmöglichkeiten während der sechswöchigen Überfahrt zur Verfügung. Dementsprechend geladen war die Stimmung in den meisten Schiffsbäuchen, wobei für deren Ausgang üblicherweise die physische Überlegenheit einer Streitpartei ausschlaggebend war. Besonders belastend war die Reise für Frauen, Kinder und Alte. Mannschaften und Offiziere mischten sich üblicherweise nicht ein, sie stellten auf vielen Schiffen für die ihnen schutzlos ausgelieferten Auswanderinnen/ Auswanderern sogar eine zusätzliche Plage dar.

Abb. 9 Immigranten im Registrationsraum

Zum Zeitpunkt ihres Eintreffens in Ellis Island waren die Neuankömmlinge aufgrund der physischen und psychischen Belastungen der vorangegangenen Wochen und Monate oft in einer apathischen oder aber gereizten Gemütsverfassung. Beim Verlassen des Schiffes wussten sie zunächst nicht, was auf sie zukam. Einmal an Land gegangen, wurden ihnen von Beamten und Polizisten Anweisungen erteilt, die von der überwiegenden Mehrzahl der Einwandernden, die ja aus nichtenglischsprachigen Ländern stammte, nicht verstanden wurde. Die Menschen wurden Gruppen unterteilt, um einer amtsärztlichen Musterung unterzogen zu werden. Die eigentliche Begutachtung dauerte nur einige Minuten und konzentrierte sich neben dem Alter auf Hände, Haare und Augen. Am Ende wurde mit Kreide ein Kürzel auf die Kleidung geschrieben: „Ct“ bezeichnete etwa die verbreitete Augenkrankheit Trachom, ein „X“ bedeutete „psychisch krank“. Beides war gleichbedeutend mit Abschiebung. Die betreffenden Personen wurden sofort in einen eigenen Bereich der Insel gebracht, wo sie auf ihre neuerliche Einschiffung zu warten hatten – ohne, dass ihnen jemand erklärt hätte, was sie erwartete. Erst, wenn das Aufnahmeverfahren schon einige Zeit lief und immer wieder Menschen aus der Menge der Wartenden herausgeholt worden waren, um in den Schubbereich gebracht zu werden, wurde den Menschen klar, was hier vor sich ging. Der herrschende Ton war ohnehin schon rau, zur Durchsetzung ihrer Befehle wandten die Behörden nicht selten physische Gewalt an. Das war insbesondere bei jenen notwendig, die wieder abgeschoben werden sollten. Auf Familienbande wurde dabei keine Rücksicht genommen. Hatte eine Familie einen alten, pflegebedürftigen Menschen oder ein behindertes Kind dabei, dem die Aufnahme verweigert wurde, musste innerhalb kürzester Zeit eine Entscheidung fallen: Sollten alle umkehren, den Traum von einem besseren Leben aufgeben, um die Abgewiesenen nicht sich selbst zu überlassen? Gleichzeitig war meist klar, dass arbeitsunfähige Menschen, die ihre letzte Habe verkauft hatten, um die Überfahrt bezahlen zu können, im Fall einer Heimkehr ein Leben als Bettler/in erwartete. Selbst wenn man von derartigen Tragödien nicht betroffen war, dürften die meisten Einwanderinnen/Einwanderer ihren Aufenthalt in Ellis Island keineswegs sonderlich positiv in Erinnerung behalten haben. Und auch der Blick vom US-amerikanischen Festland auf die Vorgänge auf der Insel dürfte nicht ungetrübt gewesen sein. Die Vereinigten Staaten waren zwar ein Einwanderungsland, das bedeutete aber keineswegs, dass die Einwanderinnen/Einwanderer deshalb mit offenen Armen begrüßt worden wären. Es waren arme Habenichtse, die da in Scharen kamen und ihre Wahrnehmung ähnelte durchwegs jener, die heute versuchen, sich in einem reichen Land eine neue Existenz aufzubauen. Die Einheimischen fühlten sich den Einwanderinnen/Einwanderern oft kulturell überlegen, entsprechend wenig Federlesen wurde mit ihnen gemacht. Nachdem etwa im Zuge des amerikanischen Bürgerkrieges 1863 in den Unionsstaaten die allgemeine Wehrpflicht einführt worden war, wurde eine zusätzliche Bestimmung erlassen, mit deren Hilfe sich Wohlhabende durch eine Zahlung von 300 Dollar vom Kriegsdienst freikaufen konnten. Im Umkehrschluss hieß das aber, dass mittellose Neueinwandernde praktisch vom Schiff weg rekrutiert wurden. Die Folge waren die sogenannten Draft Riots in New York, Krawalle, die nur mit Hilfe der Armee niedergekämpft werden konnten. Die US-amerikanischen Fabriksbesitzer/innen sahen ihrer seits in den Einwandernden ein industrielles Reserveheer, das Gewähr für billige Arbeitskräfte bot. Zudem waren Neueinwandernde politisch noch nicht organisiert und konnten dementsprechend ihre Interessen schlechter wahrnehmen als jene Arbeiter/innen, die schon länger im Land waren. Nicht zufällig sahen diese nun in den Einwandernden eine Gefahr für den eigenen Arbeitsplatz, Lohndrücker/innen und zusätzlich Verantwortliche für explodierende Mietkosten. Zu den sozialen Abneigungen gesellten sich die religiösen und rassistischen. Das US-amerikanische Establishment bestand aus WASPs, aus White Anglo-Saxon Protestants. Viele der europäischen Einwanderinnen/Einwanderer stammten dagegen aus katholischen Regionen, waren jüdischen Glaubens oder auch erklärte Atheisten. Etwas versteckter als gegenüber asiatischen Einwandernden (denen die Einwanderung zeitweise gesetzlich verboten wurde), Schwarzen oder der autochthonen Bevölkerung, aber nichtsdestotrotz weit verbreitet, waren rassistische Vorurteile auch gegenüber europäischen Einwandernden. Zusammenfassend galt Ellis Island also auch innerhalb der USA vielen als weit aufgestoßenes Tor, durch das Abermillionen Hungerleidende ins Land strömten, unkultiviert, fremdsprachig, mit anderen Sitten und Gebräuchen, vielfach auch mit suspektem religiösen und politischen Hintergrund.

4. Auswanderung prägt(e)

Einwanderung aus dem Habsburgerreich sowohl aus der österreichischen als auch aus der ungarischen Hälfte hatte starke Auswirkungen auf die US-amerikanische Gesellschaft. Zwischen 1900 und 1910 wanderten fast so viele Menschen aus Österreich-Ungarn in die Vereinigten Staaten ein wie aus Italien und wesentlich mehr als aus Deutschland oder Russland. Die Einwanderungsstatistiken der USA zeigen, dass zwischen 1821 und 1991 mehr als 3,3 Millionen Menschen aus Österreich-Ungarn einwanderten, verglichen mit 3,27 Millionen Italienerinnen/Italienern und 2,67 Millionen Russinnen/Russen. Nur England (7,9 Millionen) und Deutschland (5,4 Millionen) weisen in der Langzeitbetrachtung höhere Zahlen auf. Diese große österreichischungarische Gruppe verteilte sich allerdings auf mindestens zwölf verschiedene Ethnien, die in Europa nach dem Ersten Weltkrieg alle unabhängig wurden und sich bereits zum Zeitpunkt ihrer Emigration stark unterschieden. Allerdings sind im Zentralen Europäischen Einwanderungsarchiv an der University of Minnesota in Minneapolis die Österreicher/ innen nicht als Gruppe präsent, ungeachtet des Umstands, dass viele von ihnen sich in Minnesota niederließen. Die Gruppe der deutschsprachigen Österreicher/innen wurde ihrerseits rasch von den Deutschland-Deutschen absorbiert. Nur wenige Gruppen von Österreicherinnen/Österreichern, die auf dem heutigen Staatsgebiet geboren wurden, erhielten in Amerika ihre Herkunftsidentität als kleine, funktionsfähige lokale Gemeinde aufrecht. Entsprechende Communities gründeten Einwanderinnen/Einwanderer aus dem Burgenland, aus der Steiermark, aus Tirol und aus Vorarlberg. Mehr als 1.500 Menschen aus Vorarlberg wanderten zwischen 1890 und 1925 in das Textilindustriegebiet in New Jersey ein und siedelten sich entlang der sogenannten Bergen-Linie an, die von Jersey City nach West New York, Union City, Guttenberg, North Bergen und Fairview verläuft.

Abb. 10 aus Markt Allhau eingewanderter Bäcker iin Chicago

4.1 Das Beispiel Chicago

Die Geschichte der deutschsprachigen Österreicherinnen/ Österreicher ist also Teil der Geschichte von „German America“. Als Beispiel, wie „die Deutschen“ (zu denen neben den späteren Österreicherinnen/Österreichern auch etwa Schweizer/innen oder Russland-Deutsche gezählt wurden) ihre neue Heimat prägten, ein Blick nach Chicago in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Viele Einwanderungsgruppen aus anderen Gebieten waren relativ früh zu einem hohen Maß sozial segregiert. Abhängig von ihren materiellen Verhältnissen gehörten sie unterschiedlichen Vereinen und Clubs an, lebten in unterschiedlichen Stadtteilen, hatten ihre Kinder an unterschiedlichen Schulen und fühlten sich einander kaum verbunden. Im Fall der deutschsprachigen Community lagen die Dinge etwas anders. Zwar existierten natürlich auch hier soziale, religiöse und politische Unterschiede, aber in Chicago besiedelten die Deutschsprachigen relativ geschlossen einen bestimmten Stadtteil – die Northside. Dort gab es vor allem kleine Handwerks- und Gewerbebetriebe, die Deutschen dominierten in der Stadt bestimmte Geschäftssparten wie das Gerben, Schneidern, Tischlern oder Backen sowie das besonders wichtige Gastgewerbe. Neben den Iren waren die Deutschen in den USA die Wirte.

In Chicago erschienen zwischen 1732 und 1955 fast dreihundert unterschiedliche deutschsprachige Zeitungen, es gab ein vielfältiges deutschsprachiges Vereinswesen, das keineswegs nur Freizeitgestaltung und körperliche Ertüchtigung im Blick hatte, sondern auch soziale und politische Anliegen verfolgte. So gründeten etwa Gemeinschaften wie die Freimaurer und die Sonderbaren Brüder (Independent Order of Odd Fellows) Kranken- und Rentenversicherungen, exilierte Sozialistinnen/Sozialisten bauten Arbeiterbildungsvereine und Gewerkschaften auf, andere Organisationen betrieben Bibliotheken und Bildungseinrichtungen. Materielle Gegensätze und unterschiedliche Weltanschauungen wurden in der deutschen Community jahrzehntelangvon Anliegen überlagert, in denen man sich über alle Grenzen hinweg fand.

Zum einen war da die Sprache. Die wenigsten nicht-englischen Einwanderinnen/Einwanderer beherrschten zum Zeitpunkt ihrer Ankunft Englisch, vielen war zudem daran gelegen, dass ihre Kinder auch weiterhin Deutsch beherrschten. Neben Bemühungen, Gesetze und Verordnungen auch auf Deutsch zu veröffentlichen, stand besonders das deutschsprachige Schulwesen bzw. der Deutschunterricht an öffentlichen Schulen im Zentrum der Aufmerksamkeit der „German Americans“. Eine Legende ist dagegen die angeblich knapp gescheiterte Einführung des Deutschen als Amtssprache der USA. Selbst in Bundesstaaten mit hohem deutschsprachigen Bevölkerungsanteil wie Pennsylvania stand derlei nie ernsthaft zur Debatte.

Zum anderen hegten Deutschsprachige über konfessionelle, regionale, soziale und politische Grenzen hinweg eine tiefe Antipathie gegen die asketische Lebensführung, die viele angelsächsische Protestantinnen/Protestanten in den Vereinigten Staaten allen Bürgerinnen/Bürgern per Gesetz aufzuerlegen versuchten. Erbittert schrieb die deutschsprachige Medienlandschaft gegen die „Temperenzfanatiker“ an, die den Genuss von Alkohol verbieten wollten. Demonstrativ hielten deutsche Vereine sonntägliche Festivitäten ab, um „grundlegende Formen deutscher Lebensweise und Geselligkeit“ zu fördern und gegen die als „Sonntagsmuckerei“ betitelten Versuche, öffentliche Vergnügungen am Sonntag zu verbieten, aufzubegehren.

Weil die deutschen Einwanderinnen/Einwanderer nicht über ein einheitliches religiöses Bekenntnis verfügten, sondern neben Katholikinnen/Katholiken, Lutheranerinnen/ Lutheranern und Calvinistinnen/Calvinisten auch nicht wenige Atheistinnen/Atheisten und Freidenker/innen ins Land kamen, spielte Religion für das Funktionieren der Gemeinschaft eine untergeordnete Rolle (anders als dies etwa bei den katholischen, irischen oder italienischen Communities der Fall war). Die deutschen Einwanderinnen/Einwanderer in Chicago waren mehrheitlich liberal und demokratisch. Sie standen seit den 1850ern mehrheitlich der Republikanischen Partei nahe und meldeten sich zu Beginn des Amerikanischen Bürgerkrieges vielfach freiwillig, um gegen die Südstaaten zu kämpfen. Ein prominenter Kommandeur der deutschen Freiwilligen war der badische 1848er-Revolutionär Friedrich Hecker.

Abb. 11 Cincinnati Over-the-Rhine-Saloon-1875

4.1.1 Exkurs: German Saloons

Gasthaus ist Gasthaus? Mitnichten. Den typisch „deutschen“ Saloon zeichneten seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einige Besonderheiten aus, die ihn unter den Gastronomiebetrieben seiner Zeit einzigartig machten und zugleich Rückschlüsse auf die soziale Funktion zulassen. An vielen Orten der USA findet sich auch heute noch „deutsches“ Gastgewerbe. In Restbeständen haben sich die ursprünglichen Charakteristika dort erhalten.

Die gängigen nicht-deutschen Saloons orientierten sich am Beispiel des irischen Pubs zu jener Zeit: abgedunkelte Kneipen, in denen sich Männer versammelten, um vornehmlich Hochprozentiges zu konsumieren. Die Lokale verfügten aufgrund der zumeist kleineren Räumlichkeiten kaum über Sitzgelegenheiten, zeichneten sich durch eine Stehtheke (bar – Balken) aus und waren in der Tradition des „Gin Palace“ auf den Alkoholkonsum selbst zugeschnitten. Die deutschen Gaststätten verfügten dagegen, orientiert am Vorbild der Bräuhäuser, über großzügige, hell erleuchtete und mit Sitzplätzen und Tischen ausgestattete Räumlichkeiten. Angesprochen wurden nicht nur Männer, man verstand sie als kulturellen und politischen Versammlungsort für die gesamte Community, einschließlich Frauen und Kinder. Gereicht wurde als einziges alkoholisches Getränk Bier, zudem Säfte und – vor allem – Speisen. Gemeinhin waren die deutschen Gaststätten auch unter Puritanerinnen/ Puritanern relativ gut beleumundet, weil sie im Vergleich zu Pubs weniger den Charakter von Versammlungsorten für Süchtige hatten und Kleinkriminalität, vor allem Prostitution, die Ausnahme darstellte.

4.1.2 Exkurs: Emigrantinnen/Emigranten in der Politik – der deutsche Anarchismus

Abb. 12 Eisenbahnerstreik 1877 in Pittsburgh, u.a. Bahndepots in Brand gesteckt

Im Verlauf der 1870er-Jahre nahm der sozialistische Einfluss unter den Deutschen Chicagos stark zu. Ursache dafür waren die verheerenden Lebensbedingungen, denen sich Arbeiter/innen und ihre Familien gegenüber sahen. Im Jahr 1877 kam es zu einem Eisenbahner-Streik, der bald das ganze Land erfasste und von Militär und Exekutive mit größter Härte niedergeschlagen wurde. Dutzende Menschen kamen dabei ums Leben. Es sollte nicht das einzige Massaker bleiben, das an Streikenden in den darauffolgenden Jahren verübt wurde. Begleitet war die allzeit bereitwillig eingesetzte staatliche Gewalt von wilden Tiraden in bürgerlichen Zeitungen des Landes. „Die New Yorker ‚Times‘ lieferte eine beeindruckende Liste von Charakterisierungen für die Streikenden: Ganz selbstverständlich gehörten zu all den klangvollen Schimpfworten auch Worte wie „Kommunist“ oder „Arbeitsreform-Agitator“: disaffected elements, roughs, hoodlums, rioters, mob, suspicious looking individuals, bad characters, thieves, blacklegs, looters, communists, rabble, labor-reform-agitators, dangerous class of people, gangs, tramps, drunken sectionmen, lawbreakers, threatening crowd, bummers, ruffians, loafers, bullies, vagabonds, cowardly mob, bands of worthless fellows, incendiaries, enemies of society, reckless crowd, malcontents, wretched people, loudmouthed orators, rapscallions, brigands, robbers, riffraff, terrible fellows, felons, idiots. (Trachtenberg 2007, 71) Angesichts des massiven Drucks seitens staatlicher Stellen und paramilitärischer Einheiten, die von den Unternehmerinnen/Unternehmern bezahlt wurden, um die eigenen Arbeitskräfte in Schach zu halten, radikalisierte sich auch die Arbeiterschaft. Eine besondere Rolle spielten dabei abermals Deutsche, diesmal Anarchistinnen/Anarchisten. Sie organisierten Streiks und Demonstrationen, um auf die prekäre Lage der Arbeitenden aufmerksam zu machen und eine Verbesserung ihrer katastrophalen Lage zu erzwingen. Im Jahr 1886 eskalierte die Lage schließlich. Am 1. Mai dieses Jahres traten landesweit 340.000 Menschen in den Ausstand und alleine in Chicago gingen 80.000 Menschen auf die Straße, um höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen zu fordern. Zentrales Anliegen der Demonstrantinnen/ Demonstranten war die Einführung des 8-Stunden-Tages. Am 3. Mai 1886 erschoss die Polizei in Chicago zwei streikende Holzarbeiter, nachdem diese als Streikposten versucht hatten, Streikbrecher/innen am Betreten einer Fabrik zu hindern. Nach jahrelangen Auseinandersetzungen, in denen die Obrigkeit durchwegs die Interessen der Fabriksbesitzer/ innen wahrgenommen hatte und oft mit äußerster Härte gegen widerspenstige Arbeiter/innen vorgegangen war, provozierte dieses Ereignis Gegengewalt. 

Am Rande einer Protestkundgebung auf dem Chicagoer Haymarket detonierte tags darauf eine Bombe in einer Gruppe von Polizisten. Durch die Bombe und die darauf folgende Schießerei kamen acht Polizisten und eine unbekannte Anzahl Demonstrantinnen/Demonstranten ums Leben. Es war das erste Bombenattentat, das die Vereinigten Staaten bis dahin gesehen hatten, und diente den Behörden als Vorwand, massiv gegen die Arbeiterorganisationen und hier besonders gegen die Anarchistinnen/Anarchisten vorzugehen. Schlussendlich wurden acht führende Köpfe der Arbeiterschaft wegen des Bombenattentats, an dem sie nachgewiesenermaßen keinen Anteil hatten, zum Tod verurteilt, vier von ihnen auch hingerichtet. Sechs der acht Angeklagten und drei der vier Hingerichteten stammten aus deutschen Familien. Indem ihnen die Tat vorgeworfen wurde, wurde sie gleichsam „ausgelagert“ als etwas Fremdes, Unamerikanisches und mit ihr die politischen Inhalte, denen sich die Angeklagten verbunden gefühlt hatten. Das Haymarket-Urteil von 1886 ging als prominenter, gegen die Arbeiterbewegung gerichteter Justizmord in die Geschichte ein. Zu Ehren der Opfer beschloss der Internationale Arbeiterkongress drei Jahre später, 1889, in Paris den 1. Mai zum Internationalen Arbeitertag zu erklären und ihn weltweit feierlich zu begehen.

 

5. Kultureller exodus und „Brain Drain“: Emigration unter dem NS-Regime

Ein Faktor, der die intellektuelle und kulturelle Entwicklung der US-Gesellschaft nachhaltig beeinflusste, ergab sich nach 1938 aus der Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung von Österreicher/innen aufgrund ihrer jüdischen Herkunft durch das NS-Regime. Mehr als 30.000 – nach einigen Quellen sogar bis zu 40.000 – Emigrantinnen/Emigranten fanden Zuflucht in den Vereinigten Staaten trotz der engen Beschränkung durch das Quotensystem. Etwa 150.000 rassistisch verfolgte Österreicher/innen gingen in 80 verschiedene Länder ins Exil, mehr als 60.000 österreichische Jüdinnen/Juden wurden von den Nazis ermordet. Der Exodus hatte auf die österreichische Gesellschaft nicht zuletzt insofern starke, negative Auswirkungen, als er mit dem Verlust großer Teile der geistigen Elite verbunden war, die nun in ihre neuen Gastgesellschaften integriert wurde. Im Vergleich zu früheren Wellen der Einwanderung in die Vereinigten Staaten war dies die Gruppe mit der höchsten Bildung und mit außerordentlichen intellektuellen und künstlerischen Fähigkeiten.

Von einem kulturhistorischen Gesichtspunkt aus zogen die Vereinigten Staaten also einen enormen Gewinn aus der Immigration derer, die auf der Flucht vor dem NS-Regime in Amerika eine neue Heimat fanden. Manche waren freilich entweder schon zu alt, um in den USA wirklich Fuß fassen zu können oder zu sehr in der österreichischen Kultur verwurzelt. Eine große Zahl dieser Immigrantinnen/Immigranten konnte jedoch in ihrem eigenen Beruf weiterarbeiten, besonders im universitären Bereich. Manche konnten sogar ihre Forschungen fortsetzen, z.B. auf dem Gebiet der Österreichischen Schule der Nationalökonomie, den Sozialwissenschaften (hier besonders auf dem Gebiet der Psychoanalyse und der empirischen Sozialforschung), aber auch den Naturwissenschaften. Auf kulturellem Gebiet waren die Auswirkungen besonders spürbar, vor allem im Musik- und Filmsektor, selbst wenn man die individuelle Immigration vor 1938 in Rechnung stellt. Insgesamt erfasste der kulturelle Exodus 5.000 Menschen, die sich auf verschiedene Berufe verteilten. Von diesen wählten bis zu 40 % die Vereinigten Staaten als Auswanderungsziel.

Die Immigrantinnen/Immigranten empfanden Dankbarkeit dafür, dass die Vereinigten Staaten ihnen Zuflucht boten. Trotzdem war das Leben im Exil nicht das gleiche wie in der Heimat, die sie unter Zwang hatten verlassen müssen. Anthony Heilbut dokumentierte in seinem Buch „Exiled in Paradise“ (1938) die komplexe Natur dieser „doppelten“ Entwurzelung (als Jüdin/Jude und als Österreicherin/ Österreicher) und die Schwierigkeit der Anpassung an eine neue Welt. Obwohl Amerika mehr Flüchtlinge aus Europa hätte aufnehmen können, als dies tatsächlich der Fall war, machte beträchtlicher Widerstand gegen die Einwanderung der überwiegend jüdischen Flüchtlinge die Situation noch komplizierter. Viele der Betroffenen erlebten die amerikanische Gesellschaft als „oberflächlich, materialistisch und vulgär“, wie ein Emigrant schrieb. Viele Künstler/ innen ergriffen dankbar die Chance, die ihnen die Einreise in die USA bot, standen aber trotzdem unter beträchtlichem emotionalen Druck.

Diese Gruppe von deutschen und österreichischen Flüchtlingen der Mittelschicht neigte dazu, sich in großen Städten niederzulassen, besonders in New York, obwohl es 1953 auch eine Gruppe von 22.000 ehemaligen österreichischen Staatsbürgerinnen/Staatsbürgern in Kalifornien gab. Innerhalb von zwei Jahren hatten sie die nötigen Englischkenntnisse erworben und mit dem Jahr 1948 waren 95% dieser österreichischen Flüchtlinge Staatsbürger/innen der Vereinigten Staaten geworden. Allerdings gaben nur 37% an, sie lebten in finanziell gesicherten Verhältnissen. Trotzdem war die Rückwanderungsrate nach dem Zweiten Weltkrieg gering – im akademischen Bereich betrug sie etwa 7%.

Es gab in dieser Periode auch eine nicht-jüdische Gruppe von Exilantinnen/Exilanten, einige wenige hundert Menschen, in erster Linie solche, die vor autoritären Regimen in der Zeit vor 1938 geflohen waren, einige ehemalige Sozialdemokratinnen/ Sozialdemokraten und einige Gruppen, die das vormalige Haus Habsburg unterstützten (innerhalb der zwei zuletzt genannten Gruppen gab es auch viele Menschen jüdischer Herkunft). Sie versuchten durch hartnäckiges, letztlich aber erfolgloses Lobbying die Regierung unter Roosevelt in ihrem Sinn zu beeinflussen. Zu diesem Zweck gründeten sie mehr als 25 Zeitungen und zahlreiche kurzlebige Exilorganisationen.

6. Einwanderung nach dem 2. Weltkrieg

Abb. 19 Auswanderung

Abb. 20 Rückwanderung

Zwischen 1945 und 1950 erreichte die Einwanderung aus Österreich mit einer Zahl von insgesamt 11.460 Personen die Dimensionen der Zwischenkriegszeit. Der US-Zensus von 1960 weist 300.000 von österreichischen Eltern in den Vereinigten Staaten Geborene aus, von denen ein Drittel in New York lebte, 20.000 in Chicago, 12.000 in Los Angeles und 37.000 in Pennsylvania. Die jährliche Einwanderungsquote sank dann auf 1.400 Personen im Jahr, unter die entsprechende Zahl für die Schweiz. Zwischen 1945 und 1988 wanderten 62.713 Österreicher/innen in die Vereinigten Staaten ein. Besonders in den 1950er-Jahren war der Prozentsatz hochgebildeter Immigrantinnen/Immigranten im Forschungsbereich relativ hoch, was auf die mangelnden Möglichkeiten dieser Klientel im Nachkriegsösterreich zurückzuführen ist. Die Rückwanderung nahm jedoch zu, sobald Österreich Mitte der 1960er-Jahre eine Art Breakeven- Point erreichte, sich weiter in Richtung Prosperität entwickelte und ein breit gefächertes soziales Auffangnetz ausbildete.

Generell ist die vergleichsweise hohe Quote an Rückwanderinnen/Rückwanderern ein klares Indiz dafür, wie schwer der Neuanfang in der Fremde war. Zwar galt für die Auswandernden im 20. Jahrhundert nicht mehr: „Für die ersten der Tod, für die zweiten die Not, für die dritten das Brot“ [gemeint ist jeweils die erste, zweite und dritte Generation, Anm.], wie es das noch im 17. Jahrhundert getan hatte. Dennoch erfüllten sich die Hoffnungen auf ein besseres Leben für viele nicht. So kehrten innerhalb der Gruppe der Burgenländer/innen, die im 20. Jahrhundert ausgewandert waren, mehr als 20.000 Menschen in ihre alte Heimat zurück. Die Motive waren bessere Wohn- und Lebensverhältnisse (40%), private Gründe (36%) und berufliche Veränderungen (11.5%).

Als klassisches Einwanderungsland übten die USA traditionell wenig Druck auf Neuankömmlinge aus, ihre soziokulturelle Prägung aufzugeben und sich vollständig in der Gesellschaft ihrer neuen Heimat zu integrieren. Als allgemein verbindlich wurde in der Öffentlichkeit bis in die jüngere Vergangenheit lediglich die Beachtung der Gesetze angesehen. In der Praxis schloss das zum Teil erhebliche Diskriminierung nach religiösen, rassistischen und politischen Gesichtspunkten zwar nicht aus, erleichterte es aber erheblich, sich schneller als Teil der Gesellschaft zu begreifen, als dies in den relativ hermetischen Gesellschaften der traditionellen Auswanderungsländer der Fall war. „Vom Tellerwäscher zum Millionär“ war auch in der Neuen Welt eine irreführende Verheißung. Wenn sie überhaupt Realität wurde, dann am ehesten über den Umweg einer entsprechenden Hochzeit oder ein Engagement in den Reihen des organisierten Verbrechens. Das US-amerikanische Establishment war und blieb in der Zeit der Masseneinwanderung weiß, angelsächsisch und protestantisch. Dennoch entfaltete die Vorstellung, dass es alle durch Fleiß und Leistung schaffen könnten, sich Wohlstand zu erarbeiten, eine ungeheure Breitenwirkung. Zugleich beinhaltete sie theoretisch ein hohes Integrationspotential. Dass dieses Potential angesichts der sozialen Realitäten rasch verpuffte, liegt auf der Hand: Die elenden Lebensbedingungen weiter Bevölkerungsteile, vor allem der Neueingewanderten, ließen schnell Ernüchterung einkehren und veranlassten die Menschen dazu, Halt in der eigenen Gruppe zu suchen, die das Gefühl der Benachteiligung teilte und dazu tendierte, die alte Heimat mitsamt den dort herrschenden Zuständen nostalgisch zu verklären.

Die fordistische Ära ermöglichte dagegen nach 1945 tatsächlich für große Kreise der Bevölkerung eine spürbare Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse. Viele Menschen hatten subjektiv das Gefühl, der American Dream werde zumindest teilweise Realität. Entsprechend stark war auch unter jenen österreichischen Einwanderinnen/ Einwanderern die Tendenz zur vollständigen Assimilation ausgeprägt, die nach 1945 kamen. Sie hatten ein zerstörtes, wirtschaftlich, politisch und sozial darniederliegendes Land verlassen und die Auswanderung relativ rasch auch als sozialen Aufstieg erlebt. Ihre Kinder kannten die alte Heimat als rückständigen, mit der Geschichte des Nationalsozialismus eng verflochtenen Staat und verspürten entsprechend wenig Verlangen, in ihrer ethnischen Tradition verhaftet zu bleiben. Ihre Eltern hatten mit ihnen zuhause oftmals nicht mehr Deutsch, sondern Englisch gesprochen, das Beherrschen der Erstsprache galt den wenigsten als erstrebenswert. Demgegenüber waren Kinder von Einwanderinnen/ Einwanderern in den 1920er- und 1930er-Jahren im Elternhaus mit Deutsch aufgewachsen und hatten Englisch erst in der Schule gelernt. Ihrem Herkunftsland enger verbunden blieben daher ironischerweise oft Menschen, die dort aufgrund ihrer Herkunft verfolgt worden waren, sich aber aufgrund ihres Bildungsgrades und ihrer Sprachkenntnisse einen Horizont hatten erarbeiten können, der die Verfolgungserfahrungen nicht zum einzigen Charakteristikum der dortigen Kultur machte.

Wo die Bindungen aufrecht blieben, hatten sie oftmals regionalen bzw. folkloristischen Charakter. So betonten verschiedene Burgenländer/innen-Organisationen ihre Verbundenheit bis in die 1990er-Jahre, indem sie besonderen Wert auf kulturelle Veranstaltungen und regelmäßige Kontakte mit ihrem österreichischen Herkunftsbundesland legten. 1955 wurde eine Dachorganisation mit Sitz in Österreich gegründet, die Burgenländische Gemeinschaft, deren Aufgabe es war, die verschiedenen Gruppen in New York, Chicago, Pennsylvania und New Jersey zu koordinieren. Funktionierende ethnische Netzwerke lassen sich auch heute noch in Pennsylvania nachweisen, so etwa in Allentown, Coplay, Lehigh, Northampton und Nazareth. Als Verbindungsglied zur Kultur der eigenen Vorfahrinnen/Vorfahren dient hier vor allem die Musik, die in entsprechenden Orchestern und Kapellen gepflegt wird. Dagegen wurden Organisationen, die soziale Anliegen verfolgten, vor allem die in den 1920ern gegründeten Krankenkassen, in den 1970ern aufgelöst. Politisches und soziales Engagement der Nachkommen österreichischer Einwanderinnen/Einwanderer ist nicht mehr länger ethnisch definiert und der Strom der Einwanderung aus Österreich, der ebenfalls als Stütze einer Österreich- Identität fungieren hätte können, ist praktisch versiegt

dgpb © Tina Gusenbauer, Katharina Petrin, Oliver Rathkolb, Florian Wenninger

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agso.uni-graz.at/marienthal/chronik/01_01_07_04_Oesterreich_Ungarn. htm (Zugriff 30. Mai 2014)