Migration
Alfred Germ, Tina Gusenbauer, Bettina Paireder, Katharina Petrin, Florian Wenninger
1. Konzeptive Überlegungen zur Gestaltung didaktischer Szenarien
Das Themenfeld der Migration zählt im 21. Jahrhundert sicherlich zu den Schlüsselproblemen und stellt gleichzeitig einen Megatrend dar. Im globalen Kontext entwickeln sich Gesellschaften immer stärker zu Migrationsgesellschaften. Dabei handelt es sich beim Thema der Migration aber um kein neues Phänomen. Es begleitet die Geschichte der Menschheit, tritt aufgrund unterschiedlicher Ursachen allerdings in unterschiedlichen Formen auf. Prähistorische Wanderungsbewegungen haben ihre Ursachen in der Suche nach neuen Weideplätzen. Die Emigrationsbewegungen am Beginn der Neuzeit wurzeln in religiöser Intoleranz und Verfolgung. Ökonomische Benachteiligung und der Ausblick auf bessere Lebensbedingungen prägen die Immigration in die USA ab dem späten 19. Jahrhundert. Krieg und Verfolgung sind wesentliche Elemente für Migrationsbewegungen seit dem 20. Jahrhundert. Der Globalisierungsprozess verstärkt den ökonomischen Druck auf Menschen, der beispielsweise seit den Reformen in China zu verstärkter Binnenwanderung, in Europa zu Zuwanderung aus Afrika und Teilen Asiens führt. In einem europäischen Kontext beherrschen dabei die Themen Asyl, Asylrecht und Asylmissbrauch den öffentlichen Diskurs. Die Bedeutungszunahme von rechtspopulistischen und rechtsextremen Parteien im Europa der letzten beiden Jahrzehnte steht in unmittelbarem Zusammenhang mit Zuwanderungs- und Asylfragen.
Urbane Räume gelten als bevorzugtes Ziel für Migrantinnen/ Migranten. Schüler/innen sind in ihrer Alltagserfahrung mit dem Phänomen der Migration auf verschiedenen Ebenen konfrontiert. Ausländerfeindlichkeit, Fremdenhass, Rassismus und andere Vorurteile prägen dabei oft den Alltagsdiskurs. Sie sind in den letzten Jahrzehnten aber auch zum fixen Bestandteil innen- und europapolitischer Auseinandersetzungen geworden. Von Parallelgesellschaften ist die Rede, das Konzept von multikulturellen Gesellschaften wird als gescheitert erklärt, ausländerfeindliche und rassistische Wahlkämpfe haben sich etabliert, Asylgesetze wurden verschärft, sodass die Kritiker/innen dieser Art von Politik auch von der „Festung Europa“ sprechen. Nationalkonservative und rechtsextreme Parteien treten in Europa in der Öffentlichkeit immer vehementer gegen Migrantinnen/Migranten und Asylsuchende auf. Sie bedienen sich rassistischer Ideologien und sorgen nicht selten mittels Hassparolen für ein fremdenfeindliches Klima. Rassistisch motivierte Gewalt ist im Steigen begriffen. (Oakley 2005) Vertreter/innen einer multikulturellen Gesellschaft gehen hingegen davon aus, dass unterschiedliche kulturelle, religiöse und ethnische Gruppen nebeneinander existieren sollen und können. Assimilation wird abgelehnt. Liberale und konservative Vertreter/innen sprechen sich häufig für die Integration von Migrantinnen/ Migranten aus. Damit ist allerdings meistens Assimilation gemeint, indem sich Migrantinnen/Migranten an gültige Normen und Werte der Mehrheitsbevölkerung anpassen sollen. Begrifflichkeiten wie „Leitkultur“, „Parallelgesellschaften“ und die Forderungen nach einem Zuwanderungsstopp dominieren deren Migrationsdiskurs.
2. Implementierung des Kompetenzmodells
Das Themenfeld von Migration und Asyl eignet sich für die Umsetzung der historisch-politischen Kompetenzmodelle besonders gut. Fragen zu Migration und Asyl sind oftmals sehr vorurteilsaufgeladen und werden häufig emotional diskutiert. Vorurteile und Vorausurteile sind dabei nicht selten prägende Vorstellungen zu Migration und Asyl. Einwanderungsgesellschaften sind daher per se mit diesen Fragestellungen befasst. Phänomene der Zuwanderung konfrontieren sowohl Migrantinnen/Migranten als auch die Mitglieder der Mehrheitsbevölkerung mit der Dimension von Fremdheit, Anderssein und dem Eigenen. Die Themenstellung eignet sich daher auch ausgezeichnet als Beispiel für die kompetenzorientierte Reifeprüfung aus GSPB und lässt sich den Themenpools „Expansion und Migration“, „Lokale, regionale, globale Wahrnehmungen“, „Ausgrenzung bestimmter Ethnien“, „Das Fremde und das Eigene“ oder „Urteilsbildung zu aktuellen politischen Problemen“ zuordnen. (Mittnik 2011) Die Vielfalt an Themenstellungen, die mit den Bereichen Asyl und Migration sowohl in einer historischen als auch aktuellen Perspektive verbunden sind, eignen sich im schulischen Kontext gut für Portfolioarbeit (Suschnig 2012) und das Erstellen von Vorwissenschaftlichen Arbeiten. (Beier 2012) Methodisch-didaktisches Material ist jedenfalls in ausreichender Menge vorhanden.
Auch für viele Schüler/innen ist der unmittelbare Kontakt mit Migrantinnen/Migranten Teil ihrer Erfahrungswelt. Hier kann leicht an Vorwissen und Voreinstellungen der Schüler/innen angeschlossen werden. Diese Dimension, begleitet von Verunsicherung und Identitätsfragen, ist der Ansatzpunkt für die historische Fragekompetenz. Schüler/ innen sollen aus ihrer gegenwärtigen Erfahrungswelt der Migration Fragen an die Geschichte stellen und Antworten für die gegenwärtige Situation erhalten. Sie sollen befähigt werden, die gegenwärtige globale Entwicklung von multiund transkulturellen Gesellschaften zu verstehen und begreifen, dass Migration aus einer historischen Perspektive gesehen, stets existent gewesen ist. Die historische Orientierungskompetenz soll Hilfestellung bieten, dass ein Leben in Zukunft immer mehr eines interkulturellen Verständnisses bedarf. Zur Vermittlung von Sachkompetenz bieten sich konzeptionelle Vorstellungen zum Bereich Identität an. Ziel könnte das Entwickeln von einer übernommenen Identität, die durch Eltern geprägt ist, hin zu einer erarbeiteten Identität sein, bei der Meinungen und Positionen begründet und differenziert eingenommen werden. (Gautschi 2011) Identitätsbewusstsein in dieser Form wird bewusst und reflektiert wahrgenommen. Damit wären aus einer subjekttheoretischen Positionierung vor allem Reflexions- und Sinnbildungskompetenzen angesprochen, die das eigene Ich als Produkt von Sozialisationsprozessen begreifen und um die Veränderbarkeit Bescheid wissen. (Hellmuth 2009) Zur Diagnose von unterschiedlichen Formen von Identitätsbewusstsein bieten sich Arbeitsaufträge zu den Fragen lokal (Heimat), regional (Region), national (Österreich), kontinental (Europa) oder global (Welt) an. Bereits hier kann an die De- und Rekonstruktionskompetenz historischen Lernens angeschlossen werden, indem so diffuse Begriffe wie Heimat oder Österreich- und Europabewusstsein thematisiert und analysiert werden. Die De- und Rekonstruktion sowohl aktueller als auch historischer Zeugnisse von Migrations- und Asylbewegungen kann im Sinne historischpolitischen Lernens mit der politikbezogenen Methodenkompetenz zusammengeführt werden. Dabei geht es um die Analyse fertiger politischer Manifestationen wie Zeitungsartikel, Radioberichte oder Wahlplakate. Darüber hinaus sollen die Schüler/innen eigene politische Manifestationen zum Themenfeld der Migrations- und Asylpolitik verfassen. Politische Handlungskompetenz kann vor allem im Austragen von Konflikten geübt werden. Die Möglichkeit zur Kontaktaufnahme mit NGOs oder anderen Institutionen, die sich der Asyl- und Migrationsthematik angenommen haben, soll jedenfalls angebahnt und auch an konkreten Beispielen praktiziert werden.
Die didaktischen Prinzipien der Multiperspektivität und Kontroversität stehen aufgrund der thematischen Fokussierung gerade bei diesen Unterrichtssequenzen stets im Vordergrund. Insbesondere bei der Ausbildung von politischer Urteilskompetenz darf es zu keinem moralisierenden PoliPolitikunterricht kommen. Allerdings ist darauf zu achten, dass Schüler/innen auch an diesen Beispielen die Unterscheidung zwischen Vor-, Vorausurteilen und Urteilen lernen. Von Urteilen kann dann gesprochen werden, wenn in der Argumentation eine empirisch-wissenschaftliche Orientierung zu erkennen ist. (Ammerer 2008) Das Thema eignet sich ferner sehr gut zur Aktivierung von Empathiefähigkeit. Schüler/innen sollen in Rollenspielen oder durch die Anwendung der Theatermethodik von Augusto Boal Empfindungen, Ängste und dgl. von Migrantinnen/Migranten und Mitgliedern der Mehrheitsbevölkerung verspüren lernen. Europakompetenz kann in diesem Zusammenhang vor allem mit Fragen der illegalen Zuwanderung und dem Schlepperwesen an den mediterranen und östlichen und südöstlichen Außengrenzen der Europäischen Union thematisiert und trainiert werden. Insgesamt eignet sich das Thema Migration und Asyl hervorragend dazu, sowohl ein historisches als auch ein politisch reflektiertes und selbstreflexives Bewusstsein herzustellen. (Kühberger 2009) Leitfigur ist jedenfalls die mündige Bürgerin/der mündige Bürger.
Als Arbeitswissen sollen Grundbegriffe zu Migration und Asyl bereitgestellt werden. Die Schüler/innen recherchieren eigenständig nach den zentralen Begriffen. Historische Beispiele für Migrationsbewegungen müssen gekannt werden. Entlang dieser Inhaltsorientierung sollen die verschiedenen Kompetenzen trainiert und (weiter-)entwickelt werden.
3. Lernziele
- Gründe und Ursachen für Migrationsmotive und Asylfragen kennen
- erstehen lernen, warum es zu historischen und gegenwärtigen Migrationserscheinungen kommt
- Einsicht in die Pluralität von Lebensentwürfen gewinnen
- die eigene Position zu Migrationsfragen reflektieren können
- erläutern und begründen können, warum Migrations und Asylfragen oft emotional und kontrovers sind
- Identitätskonzepte und ihre Entstehung und Wandelbarkeit hinterfragen
- aufzeigen, wie Migrations- und Asylfragen populistisch instrumentalisiert werden können
- Empathiefähigkeit für Migrantinnen/Migranten und Asylsuchende entwickeln lernen
- mit politischen Manifestationen zur Migrations- und Asylpolitik kritisch umgehen lernen
4. Lehrplanbezug
Grundsatzerlass zur Politischen Bildung für alle Schultypen und Unterrichtsfächer Sekundarstufe I und II
- (A)HS: 4. Klasse (fächerübergreifend mit GWK)
– interkulturelles und globales Lernen
– Globalisierung als kultureller, wirtschaftlicher, politischer Wandel
– Leben in einer vielfältigen Welt (Bereitschaft anbahnen, sich mit „dem Anderen“ vorurteilsfrei auseinanderzusetzen)
- AHS: 5. Klasse
-Expansion und Migration und deren soziokulturellen Auswirkungen
- AHS: 6. Klasse
-Frühkolonialismus, Kolonialismus, Imperialismus
- AHS: 8. Klasse
– Globalisierungsprozess
– Vereinte Nationen
- HTL: II. Jahrgang
-Kulturkonzepte
– Expansion und Migration und deren soziokulturelle Auswirkungen
– multikulturelle bzw. multireligiöse Gesellschaft
- HTL: III. Jahrgang
– Kolonialisierung und Entkolonialisierung und deren Folgen bis hin zum Nord-Süd-Konflikt
– Rassismus, Feindbilder, Konfliktarten, Entwicklung von Streitkultur
- HAK: III. Jahrgang
– Spätantike Wanderbewegungen
– Kolonialismus und Imperialismus
- HAK: IV. Jahrgang
– Entkolonialisierung und ihre Folgen
– Veränderungen in der Gesellschaft: Migration
– Jüngste Entwicklungen und Tendenzen: Migration und ihre Folgen
– Bevölkerungsentwicklung und Bevölkerungspolitik
dgpb © Alfred Germ, Tina Gusenbauer, Bettina Paireder, Katharina Petrin, Florian Wenninger