Editorial
Andrea Brait
Neue Themenfelder für die Zeitgeschichte
Die österreichische Zeitgeschichtsforschung war lange Zeit auf die Zwischenkriegszeit und den Nationalsozialismus fokussiert. Erst mit Öffnung des Blickwinkels auf die Nachkriegszeit sind viele Entwicklungen beachtet worden wie etwa die der Migration nach Österreich (Rupnow 2013) , die die österreichische Gesellschaft zweifelsohne verändert hat. Während in Deutschland schon in den frühen 1990er-Jahren begonnen wurde, die Geschichte der DDR zu erforschen, und während die Osteuropaforschung die „Geschichte des stalinistischen Imperiums als Teil des gesamteuropäischen Geschehens(1) zu verstehen“ versuchte (Golz 2005, 2) , setzten sich in Österreich neue Forschungsfelder nur zögerlich durch. Die Epoche nach 1989/90, die von Hans-Peter Schwarz als „neueste Zeitgeschichte“ (Schwarz 2003) bezeichnet wird, ist in Österreich lange Zeit kein Thema für die Zeitgeschichtsforschung gewesen.
Das Auflösen des bipolaren Systems, das sich Ende des Jahres 1989 abzeichnete, war aber nicht nur für Deutschland und die Staaten Mittelosteuropas von großer Bedeutung. Österreichs außenpolitische Stellung, die seit 1955 wesentlich durch die Bedingungen des Kalten Krieges geprägt war, änderte sich infolge der weltpolitischen Ereignisse in den Jahren 1989 bis 1991 massiv. Diese neu entstandene Situation erleichterte den angestrebten Beitritt zu den Europäischen Gemeinschaften (EG, später Europäische Union), der im Juli 1989 mit dem „Brief nach Brüssel“(2) offiziell gemacht wurde. Außerdem wird immer wieder betont, dass das Ende des bipolaren Systems eine „Rückkehr“(3) Österreichs „in die Mitte Europas“ bedeutet hat. Doch sind für Österreich in weiterer Folge auch die hinzugekommenen „Bedrohungsformen und Gefahrenpotentiale“ zu bedenken, die „eine Umorientierung der bisher vorliegenden militärpolitisch bestimmten Strategien in Richtung auf einen erweiterten Sicherheitsbegriff hin erforderlich“ gemacht haben. (Höll 1994, 393)
Offene Grenzen, neue Barrieren und gewandelte Identitäten
Diese Überlegungen wurden zum Ausgangspunkt für das vom Zukunftsfonds der Republik Österreich geförderte und bei der Dr.-Wilfried-Haslauer-Bibliothek (Salzburg) angesiedelte Forschungsprojekt „Offene Grenzen, neue Barrieren und gewandelte Identitäten. Österreich, seine Nachbarn und die Transformationsprozesse in Politik, Wirtschaft und Kultur seit 1989“ (Projektleiter: Michael Gehler),(4) aus dem mittlerweile neben einigen kleineren Publikationen ein Sammelband (Brait & Gehler 2014) und ein Themenheft der Zeitschrift „Zeitgeschichte“ (Nr. 3/2014) hervorgegangen sind. 2015 werden neben dem vorliegenden Themendossier noch eine Aktenedition sowie ein Band mit Zeitzeuginnen-/Zeitzeugeninterviews erscheinen.
Das Themendossier bietet einen Überblick über zentrale Ergebnisse des Forschungsprojekts. Michael Gehler zeigt in seinem einleitenden Beitrag anhand der Revolutionen in den verschiedenen osteuropäischen Staaten gemeinsame Ursachen sowie unterschiedliche Verläufe und Resultate auf. Im zweiten Beitrag dieses Heftes verweist Oliver Kühschelm einerseits auf die Entwicklung des Osthandels und dessen Bedeutung für Österreich und andererseits auf die Tradierung von gängigen Narrativen zur Ostöffnung. Andrea Brait umreißt in ihrem Text die Entwicklung der bilateralen Kulturbeziehungen zu einigen ehemaligen Ostblockstaaten nach 1989. Während die Texte von Kühschelm und Brait zeigen, wie sich Österreich nach 1989 um neue bzw. intensivere Verbindungen zum ehemaligen Ostblock bemüht hat, verweist der Beitrag von Andreas Pudlat auf gleichzeitig aufgebaute Abgrenzungsmechanismen. Als die Grenzen zum „Osten“ durchlässiger wurden, „sicherte“ Österreich bis Ende 2011 die Grenzen zusätzlich durch den sogenannten Assistenzeinsatz des Bundesheeres. Der von Marcus Gonschor verfasste Beitrag zeigt schließlich einerseits die Involvierung Österreichs in die Ereignisse des Jahres 1989 auf, andererseits wie wenig Bedeutung ihr von zentralen politischen Akteuren im Nachhinein beigemessen worden ist.
Unterrichtsbeispiele
Bei den Unterrichtsanregungen liegt der Schwerpunkt auf Zeitgeschichte und Politischer Bildung, sie bieten vielfältige Ansätze zur De- und Rekonstruktion von Entwicklungen und Wahrnehmungen. Abgestimmt auf die Beiträge des wissenschaftlichen Teils des Themendossiers finden sich zunächst einige Unterrichtsbeispiele, die in das Thema einleiten. Hierzu dienen etwa eine Reflexion über bestehende „mental maps“ oder die Erarbeitung eines Lernspiels. Mittels eines Tagebuchs zur Wende und einem Oral History-Projekt können die Schüler/innen individuellen Erfahrungen auf den Grund gehen. Weitere Unterrichtsbeispiele sind der Kulturaußenpolitik gewidmet, die von den Schülerinnen/Schülern kritisch beurteilt werden soll. Auch zur wirtschaftlichen Ostöffnung finden sich Vorlagen, die eine Dekonstruktion von Narrativen ermöglichen. Bei der Erstellung einer Werbung zu einer fiktiven Ausstellung und der Analyse einer politischen Rede können sich die Schüler/innen mit den Rollen von Einzelpersonen befassen. Außerdem finden sich einige Unterrichtsbeispiele, die dazu geeignet sind, die Bedeutung von Grenzen und des Schengenabkommens kritisch zu analysieren. Als abschließende Unterrichtsbeispiele zu diesem Themenkomplex eignen sich jene, bei denen die Schüler/innen über die Beziehungen Österreichs zu verschiedenen Staaten Mittel-/Ost- und Südosteuropas reflektieren bzw. Dokumentationen, Sekundärtexte oder Gedenkkulturen analysieren sowie Szenarien für künftige Entwicklungen in Zentraleuropa bis 2025 entwickeln.
Aufbau der Themendossiers
Die Themendossiers werden von interdisziplinär zusammengesetzten Teams (Historikerinnen/Historikern und Fachdidaktikerinnen/Fachdidaktikern) nach einem einheitlichen didaktischen Konzept entwickelt. Sie bieten den Schülerinnen/Schülern vielfältige Möglichkeiten strukturelles Denken zu entwickeln, darüber zu reflektieren und eigenverantwortlich in neuen Situationen anzuwenden. Sie sind theorie- und forschungsgeleitet, prozessorientiert, medial unterstützt sowie von der 8. bis zur 13. Schulstufe modular einsetzbar.
Entsprechend dieser Konzeption enthält das vorliegende Themendossier zum einen fachwissenschaftliche Einführungstexte für Lehrer/innen zu den Umbrüchen, die 1989 ihren Ausgang genommen haben. Zum anderen eröffnen fachdidaktische Anregungen Möglichkeiten zur Thematisierung einzelner Teilaspekte im Unterricht. Neben der prozesshaften Beschreibung eines möglichen Unterrichts - ablaufs wird in jedem Beispiel eine Möglichkeit der Ertrags - sicherung und der Rückkoppelung angeboten. Auf genaue Vorgaben von Stundenbildern ist bewusst verzichtet worden, die Unterrichtsvorschläge zeigen vielmehr exemplarisch Wege auf, wie die Themenbereiche und Arbeitsaufgaben an die jeweilige Zielgruppe angepasst werden können. Dabei ist großer Wert auf Praxisnähe gelegt worden. Ein Teil der Materialien wird auch als Kopiervorlage (teilweise inklusive Lösungsblätter) angeboten.
Die Redaktion hofft, dass das vorliegende achte Heft der Themendossiers eine sinnvolle Bereicherung für die Planung und Durchführung des historisch-politisch bildenden Unterrichts darstellt. Über Ihre Anregungen und kritischen Ergänzungen freut sich die Redaktion (p.A. hanna-maria. suschnig(at)univie.ac.at)
LITERATUR
Brait, Andrea; Gehler, Michael (Hrsg.) (2014). Grenzöffnung 1989. Innen- und Außenperspektiven und die Folgen für Österreich (Schriftenreihe des Forschungsinstitutes für Politisch-Historische Studien der Dr.-Wilfried- Haslauer-Bibliothek, Salzburg 49). Wien/Köln/Weimar: Böhlau Verlag.
Gehler, Michael (2005). Österreichs Außenpolitik der Zweiten Republik. Von der alliierten Besatzung bis zum Europa des 21. Jahrhunderts. Innsbruck: Studien Verlag
Golz, Hans-Georg (2005). Editoral. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 1–2/2005, 2.Bundeszentrale für Politische Bildung.
Höll, Otmar (1994). Das internationale System im Umbruch. In: Vranitzky, Franz (Hg.). Themen der Zeit. Wien: Passagen Verlag, 391–399.
Kleßmann, Christoph (1998). Zeitgeschichte in Deutschland nach dem Ende des Ost-West-Konflikts. Stuttgart: Klartext.
Rupnow, Dirk (2013). Deprovincializing Contemporary Austrian History. In: Zeitgeschichte 1/40,Studien Verlag 5–21.
Schwarz, Hans-Peter (2003). Die neueste Zeitgeschichte. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 51De Gruyter, 5–28.
Schwell, Alexandra (2012). Austria’s Return to Mitteleuropa. A Postcolonial Perspective and Security Cooperation. Ethnologia Europaea 1/42. Museum Tusculanum Press, 21–39
Links
www.othmar-karas.at (24/06/2015)
https://www.univie.ac.at/offenegrenzen (24/06/2015)
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