Editorial
Klaus Edel
Im Jahr 1968 spielten sich an verschiedenen Schauplätzen einschneidende Ereignisse ab, die weit über die örtliche Bedeutung hinaus auch auf andere Kontinente ausstrahlend Menschen involvierten, mobilisierten und Folgewirkungen zeigten. Zu diesen Vorgängen gehörten 1968 die Studentenrevolutionen in Paris und in verschiedenen Städten der BRD, (Drechsel 2009) der „Prager Frühling“(1) und dessen Ende als Folge des Einmarschs der Truppen des Warschauer Pakts in Prag sowie die seit 1966 währende Kulturrevolution in der Volksrepublik China (VR China). Dies sind keine isolierten Phänomene, sondern es lassen sich einige Querverbindungen aufzeigen. Wie prägend die Ereignisse gewesen sind, vermittelt das Phänomen, dass in unterschiedlichen Kontexten von den „68er-Jahren“ gesprochen wird.
Dieses Dossier thematisiert den Einmarsch der Warschauer Pakt-Truppen 1968 in Prag, ein Ereignis, das Österreich durch die unmittelbare Nachbarschaft direkt betroffen hat. Involviert waren die österreichische Bundesregierung, die einerseits zu entscheiden hatte, wie sie in dieser Situation auf der Ebene der Diplomatie reagieren sollte, aber auch wie eine (Teil-)Mobilisierung des Bundesheeres zur Sicherstellung der Grenze von der Staatsvertragsgarantiemacht Sowjetunion aufgenommen würde. Andererseits galt es Vorsorge für humanitäre Hilfe zu treffen. In diesem Bereich gab es divergente Vorstellungen und Handlungen des Außenministeriums und der Botschaft in Prag.
Eine wichtige Rolle spielte der ORF, der mit seinen Journalsendungen im Radio mittels Berichterstattung durch Vor-Ort-Reporter nicht nur eine wesentliche Informationsquelle darstellte, sondern durch Kommentare verstärkt die Stimmung in Österreich beeinflusste. Nach den dramatischen Ereignissen des 21. August 1968 (Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts in Prag) signalisierte ab dem 22. August 1968 eine tägliche Informationssendung im Hörfunk in tschechischer Sprache (Kortschak 2008) Sympathie sowie Solidarität und stellte in den ersten Tagen vielfach auch für die Menschen in der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik (ČSSR) die einzige Informationsquelle dar. Darüber hinaus war die Sendung eine große Hilfe für die nach Österreich geflüchteten rund 160.000 Tschechinnen/Tschechen und Slowakinnen/Slowaken. So brachte der Sender einen Hinweis mit Telefonnummer, dass es weitere Informationen bei der Redaktion der „Vídenské svobodné listy“ („Freie Wiener Blätter“), die im Haus der Tschechoslowakischen Sozialistischen Partei Österreichs(2) ihren Sitz hatte, gäbe. Ebenso wichtig war für die Flüchtlinge, die sich in Wien aufhielten, dass sie über die Organisation „Pomoc uprchlíkům“ („Flüchtlingshilfe“) Gratiskupons für ein täg- liches Essen in den Filialen der „Wiener öffentlichen Küchenbetriebsgesellschaft“ (WÖK) bekamen. Nach dem Ende der unmittelbaren Auseinandersetzungen brachte der ORF in dieser Sendung auch Informationen für Rück- kehrwillige, die über kein eigenes Fahrzeug verfügten. So wurde angekündigt, dass am 28. August 1968 eine kosten- lose Rückfahrmöglichkeit mit drei Autobussen der ČSAD (Československá státní automobilová doprava, tschechoslowakisches Autobusunternehmen) vom Gebäude der tschechoslowakischen Botschaft in Wien(3) über Nová Bystříce (Neubistritz), Jindřichův Hradec (Neuhaus) und Benešov (Beneschau) nach Praha (Prag) geben werde. Bereits ab dem 26. August 1968 bestand täglich, bis auf Widerruf, die Mög- lichkeit einer Gratisfahrt mit der Franz-Josefs Bahn bis nach Prag. (Kortschak 2008)
Gernot Heiß liefert in diesem Themendossier den historischen Hintergrund zur Entwicklung der ČSSR vom Parteitag 1967 bis zum Einmarsch der Warschauer Pakt- Truppen bzw. dem Ende des „Prager Frühlings“ und der „Normalisierung“ unter Gustáv Husák. In einer Zeitungsanalyse vergleicht er die Berichterstattung von „Die Presse“ und „Volksstimme“ zu den Ereignissen im Juli und August 1968 und liefert vier Perspektiven zur Beurteilung des „Prager Frühlings“.
Ein Kapitel ist Hugo Portisch und seinen Fernsehkommentaren für die „Zeit im Bild“ („ZiB“) gewidmet, die das ORF Archiv dem Fachdidaktikzentrum Geschichte, Sozialkunde und Politische Bildung der Universität Wien über Vermittlung von Dr. Peter Dusek zur Verfügung gestellt hat. Die Beiträge sind online abrufbar.
Abgesehen vom ORF informierte auch die „Austria Wochenschau“ über den Einmarsch der Warschauer Pakt-Truppen. Ein Kapitel beschäftigt sich mit der zu hinterfragenden Teilnahme der Truppen der Nationalen Volksarmee (NVA) der DDR am Einmarsch, eine Tatsache, die aufgrund von Medienberichten eindeutig erscheint, sich aber inzwischen als eine von der DDR-Propaganda verbreitete Falschmeldung herausgestellt hat.
Einige wichtige Fragen zu diesem Thema sind: Was geschah in der ČSSR nach dem Einmarsch? Wer sorgte für „Normalisierung“? Welche Auswirkungen hatte diese? Welches Schicksal nahmen die wesentlichen Protagonisten des „Prager Frühlings“? Lange Zeit tabuisiert, hat in den letzten Jahren ein Diskurs über dieses tragische Kapitel der Geschichte der Tschechoslowakei in den beiden Nachfolgestaaten begonnen, wovon einige Quellen Zeugnis geben.
Dieses Dossier bietet für Lehrer/innen Materialien und kompetenzorientierte (medien)didaktische Vorschläge. Ermöglicht wurde dies durch die Kooperation mit dem Demokratiezentrum(4) Wien, das in dankenswerter Weise den Beitrag der Austria Wochenschau und dazu bereits aufbereitete Texte zur Verfügung stellte. (Austria Wochenschau 1968) Ebenso können eine Reihe von Journalsendungen des ORF über einen Link bei der Österreichischen Mediathek abgerufen werden, einige Beiträge liegen als Transkription vor.
Der Aufbau der Dossiers
Die Themendossiers werden von interdisziplinär zusammengesetzten Teams (Historikerinnen/Historikern und Fachdidaktikerinnen/Fachdidaktikern) nach einem einheitlichen didaktischen Konzept entwickelt. Sie bieten den Schülerinnen/Schülern vielfältige Möglichkeiten strukturelles Denken zu entwickeln, darüber zu reflektieren und eigenverantwortlich in neuen Situationen anzuwenden. Sie sind theorie- und forschungsgeleitet, prozessorientiert, medial unterstützt sowie von der 8. bis zur 13. Schulstufe modular einsetzbar. Entsprechend dieser Konzeption enthält das vorliegende Themendossier zum einen fachwissenschaftliche Einführungstexte für Lehrer/innen zum „Prager Frühling“ und dessen jähes Ende durch den Einmarsch der Warschauer Pakt-Truppen, zum anderen eröffnen fachdidaktische Anregungen vielfältige Möglichkeiten sowohl die historische als auch die politische Dimension von 1968 zu reflektieren. Neben der prozesshaften Beschreibung eines möglichen Unterrichtsablaufs wird in jedem Beispiel eine Möglichkeit der Ertragssicherung und der Rückkoppelung angeboten. Auf genaue Vorgaben von Stundenbildern ist bewusst verzichtet worden, die Unterrichtsvorschläge zeigen vielmehr exemplarisch Wege auf, wie die Themenbereiche und Arbeitsaufgaben an die jeweilige Zielgruppe angepasst werden können. Dabei ist großer Wert auf Praxisnähe gelegt worden. Ein Teil der Materialien wird auch als Kopiervorlage (teilweise inklusive Lösungsblätter) angeboten. Die Redaktion hofft, dass das vorliegende siebente Heft der Themendossiers eine sinnvolle Bereicherung für die Planung und Durchführung des historisch-politisch bildenden Unterrichts darstellt. Über Ihre Anregungen und kritischen Ergänzungen freut sich die Redaktion (p.A. hanna-maria.suschnig(at)univie.ac.at)
LITERATUR
Austria Wochenschau (1968). Die Tschechoslowakei von einigen Staaten des Warschauer Pakts besetzt. 35/68 Beitrag 1.
Drechsel, Benjamin (2009). 1968. Bildaufsatz der Ikone „1968“. In Online- Modul Europäisches Politisches Bildgedächtnis. Ikonen und Ikonographien des 20. Jahrhunderts, 09/2009.(Zugriff am 15.9.2017)
Kortschak, Daniel (2008). Der Österreichische Rundfunk sendet Nachrichten in tschechischer Sprache. Sonderserie 1968.
LINKS
www.demokratiezentrum.org/index.php (Zugriff am 20. Dezember 2015)
www.mediathek.at (Zugriff am 20. Dezember 2015)
www.didactics.eu/index.php (Zugriff am 20. Dezember 2015)
www.didactics.eu/index.php (Zugriff am 20. Dezember 2015)
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