Der öffentliche Raum als Lern-Ort politischer Bildung
Friedrich Öhl, Christian Vielhaber
1. Fachwissenschaftliche Einführung
1.1 Der öffentliche Raum
In gebotener Kürze soll der Begriff „Öffentlicher Raum“ problematisiert werden (public space, civic space). Weder in der deutschen noch in der angloamerikanischen Literatur gibt es klare Festlegungen, die diesen Begriff außer Streit stellen (Ramos 2009). Einige wenige Beispiele genügen, um die diesbezügliche Problematik zu verdeutlichen: Verkehrsflächen, Straßen, Autobahnen, Parkplätze zählen im Verständnis der Stadtplanungsbehörden zu öffentlichen Räumen, nicht aber im Verständnis eines großen Teils der Bevölkerung, die einen öffentlichen Raum mit freier Zugänglichkeit für Menschen assoziiert. So werden beispielsweise Fußgängerzonen als Prototypen eines öffentlichen Raums angesehen. Ebenso werden Parks von einer großen Mehrheit der Bevölkerung als öffentliche Räume empfunden, doch welchen diesbezüglichen Stellenwert erhält eine Wiese, deren Betreten verboten ist?
Welche Etikette erhalten Einkaufszentren, die zwar öffentlich zugänglich sind, aber eindeutig privates Eigentum darstellen? Wann wäre eine Unterscheidung zwischen einem öffentlichen Raum mit freiem Zugang und einem mit Zugang gegen Bezahlung erforderlich? Ist die Etikette öffentlicher Raum möglicherweise nur dann zulässig, wenn es sich um ein Territorium handelt, das von Personen fußläufig und ohne Zugangsbarrieren wie etwa Bezahlung eines Eintrittspreises und ähnliches genutzt werden kann? Es gibt noch eine Menge weiterer Ungereimtheiten, letztlich geht es aber im Rahmen des Spannungsfeldes „öffentlicher Raum“ und „Politische Bildung“ nicht um die wissenschaftlich wasserdichte Definition eines Begriffes als vielmehr um eine didaktisch angeleitete Auseinandersetzung mit Räumen, Orten oder Territorien, die von Personen als zumindest teilweise „öffentlich“ im Sinne einer tatsächlichen oder zumindest emotionalen individuellen Verfügbarkeit empfunden werden, das heißt auch individuell erleb- und erfahrbar sind. Dabei geht es auch um jene Phänomene der Ideologisierung, der Fremdbestimmung, der Sozialisierung, der emotionalen Aufladung, etc., die in Verbindung mit diesen Räumen stehen und unsere individuellen Lebenswelten auf die eine oder andere Art bewusst oder unbewusst beeinflussen. Generelles Ziel dieser Auseinandersetzung im Sinne Politischer Bildung ist die Aufklärung hinsichtlich jener Klischees, Mythen, Geschichten, Symbolismen und Ideologien, die diesen Räumen immanent sind. Letztlich gipfelt eine solche Bemühung immer in einer Spurensuche, die darauf abzielt, herauszufinden, wie sich Raumgeschichten und Raumbewertungen durch Jahrzehnte und Jahrhunderte reproduzieren bzw. reproduzieren lassen. Dekonstruktion versus Akzeptanz könnte im Hinblick auf öffentliche Räume und ihre Einflüsse als didaktisches Problemfeld formuliert werden, das in den folgenden Ausführungen von verschiedenen Seiten aus betrachtet werden soll.
1.2 (Öffentliche) Räume als (fach)didaktisches Medium
Die Auseinandersetzung mit Räumen im Schulunterricht war - wie Lehrbuchanalysen belegen - bisher primär durch Trivialisierung einer an und für sich komplexen Problematik gekennzeichnet. Diese erfolgte vor allem dadurch, weil die entsprechenden medialen Aufbereitungen linearen, überwiegend deskriptiven Vermittlungskonzepten folgten und mehrperspektivische Annäherungen kaum nachzuweisen sind. Die tatsächliche Komplexität von Räumen lässt sich allerdings so nicht begreifen, sie zeigt sich erst dann, wenn Räume auch als sozial produzierte Produkte begriffen werden, die ihrer Genese nach mit einer bestimmten Funktion, einer Aufgabe, einer Botschaft versehen werden. Diese genannten Aspekte sind immer verbunden mit einer bestimmten Idee, einer Ideologie, einer Vorstellung von den Raumkonstrukteuren bzw. deren Auftraggebern. Wenn junge Menschen heute mit Räumen konfrontiert werden und zwar in allen Maßstabskategorien sind diese immer schon besetzt mit Nutzungsoptionen, Bedeutungszuweisungen oder historischem Ballast.
Oft gehen die Präsentationen von Räumen auch Hand in Hand mit expliziten geopolitischen Vorstellungen von „vertraut“ und „fremd“ sowie von „uns“ und „anderen“. Ebenso oft gehen aber auch ehemals tragfähige und jedem einsichtige „Raumbotschaften“ verloren oder werden einfach nicht mehr vermittelt. Wir wissen zu wenig darüber, was warum nachhaltig wirksam bleibt und was nicht. Wir merken nur, dass auch ehemals starke Raumbedeutungen Ablaufdaten haben. Der Berg Isel ist möglicherweise nur anlässlich der 200-Jahr-Feier gegenwärtig wieder für kurze Zeit zu einem Inbegriff Tiroler Freiheitsstrebens geworden, ansonsten wird er heute eher als Standort der Austragung von Schisprungveranstaltungen oder des Auftritts von Musikgruppen bei Großevents wahrgenommen. Der Siegesplatz im 22. Wiener Gemeindebezirk mit seinem symbolhaften Denkmal des „sterbenden Löwen“ des Bildhauers Anton Fernkorn assoziiert heute kaum noch jemand mit über 40000 Toten, die in den Maitagen des Jahres 1809 im Verlauf der Schlacht von Aspern beklagt werden mussten, sondern dieser Ort dient heute als beliebte Fotokulisse für Kinder und Jugendliche, die ihre Erstkommunion oder Firmung feiern. Mauthausen, jahrzehntelang als Fanal des Schreckens hochstilisiert, das einer nachrückenden Generation ihre kollektive Verantwortung begreiflich machen soll, droht zu einem Ort des Betroffenheitstourismus zu werden.
Weitere Beispiele der Veränderung der Wertigkeit von Räumen gäbe es viele, an den Schulen scheint allerdings dieser Transformationsprozess vorbeigegangen zu sein. Schule reproduziert immer noch begrenzt gedachte Raumkonstrukte (z.B. Nationalstaaten). Dabei sehen wir uns heute einem Prozess der Globalisierung gegenüber, der immer stärker zu einer Aufweichung dieses Gedankens beiträgt und zur Anerkennung von autonom-unabhängigen Zugangsweisen und Zuweisungen, was öffentliche Räume betrifft. Öffentliche Räume exklusiv als „national“ bedeutsame Räume zu denken und sie nur in dieser Funktion für ein respektables Bildungsgut zu halten, entspricht jedenfalls heute nicht mehr einer fachdidaktisch reflektierten Vorstellung von Bildung. Politische Bildung lässt sich nicht normativ verordnen bzw. rezeptuell verschreiben. Sie kommt nur dann zum Tragen, wenn individuelle Reflexion und subjektive Parteinahmen Teil des Lernprozesses sind. Reflexion und Parteinahme unterliegen allerdings keinem willkürlichen Prozess der Meinungsbildung sondern bestimmten Vorgaben politischer Bildung. Diese legitimeren sich durch die Ausrichtung der Lernprozesse im Sinne der Menschenrechte und der Akzeptanz demokratisch-rechtsstaatlicher Spielregeln, wie sie etwa durch den Meinungspluralismus dokumentiert werden.
1.3. Orientierungshilfen
Was einen Unterricht betrifft, der „über Räume“ Jugendlichen politische Bildungsqualität verschaffen soll, so bedarf es grundsätzlich dreier Orientierungshilfen: Jener eines spezifischen Raumbezugs(1) (1.1 und 1.2), jener der fachdidaktischen Grundlegung (2) und jener einer problembezogenen Ausrichtung (3). Diese drei Ansprüche sollen in der Folge so vereinfacht dargestellt werden, dass sowohl die fachdidaktische Perspektive, die Raumperspektive wie auch die Problemperspektive mühelos miteinander verknüpft und als unterrichtsleitende Komponente Verwendung finden könne
1.3.1 Der Spezifische Raumbezug
1.3.1.1 Die Dimension öffentlicher Raum auf der Maßstabsebene
Die in den Beispielen genannten Räume sind als Open End-Ergebnisse eines Diskurses anzusehen und sollten mit Zustimmung der jeweiligen Lerngruppe ausgehandelt werden.
1.3.1.2 Die Dimension öffentlicher Raum auf der Funktionsebene
Wardenga (2002) hat die angesprochenen Räume der Funktionsebene quasi unterrichtsfähig gemacht, indem sie – reduktionistisch vorgehend – die unterschiedlichen Qualitäten von Räumen auf eine Ebene heruntergebrochen hat, die, wie Fortbildungsveranstaltungen gezeigt haben, von vielen Lehrenden der Sekundarstufen als transferfähig für den Schulunterricht interpretiert wurde. Da wäre zunächst unser Problemfeld „Mensch und Raum“ als geographischer Raum gedacht, in dem alle Objekte als verortbare Sachverhalte darstellbar sind. Dieser Raum entpuppt sich bei näherem Hinsehen als nichts anderes als die Bühne des Wirkungsgefüges natürlicher und menschlicher Faktoren und wird sozusagen als „Container“ aufgefasst. Der Bezug auf dieses Raumkonzept erlaubt primär jene Informationen abzurufen, die mir ein Blick in den Behälter vermittelt. Die kognitive Erfassung einer Situation kann noch durch Wissen über Ereignisse, die in diesem Raum stattgefunden haben, angereichert werden. Das „Container“-Konzept unterstützt vorrangig die Vermittlung von Faktenwissen. Dabei können die Informationen, die in einem entsprechenden Wissenskatalog Eingang finden, ganz schön umfangreich sein.
Die Fülle an Wissen, die in Bezug auf den „Container“ abgerufen werden kann, erweist sich allerdings bei näherer Betrachtung als trügerisch, was die Nachhaltigkeit und die Qualität an vermittelter Bildung betrifft, denn weder das subjektive Verständnis für eine spezifische Problemsituation noch die individuelle Reflexionsfähigkeit werden durch den bloßen Transfer von Daten und Fakten wirklich unterstützt. Abgesehen davon bleiben wichtige Erkenntnisbereiche ausgeklammert, wie etwa jene, bei denen es um die Bedeutung von Standorten, Lage-Relationen und Distanzen für die Schaffung gesellschaftlicher Wirklichkeit geht.
Diese Art der Fragestellung rückt dann in den Mittelpunkt des Interesses, wenn Räume als Systeme von Lagebeziehungen materieller Objekte betrachtet werden. Im Fachjargon spricht man in diesem Zusammenhang von einem relationalen Raumkonzept. Ein einfaches Beispiel dafür wäre, wenn beispielsweise historisches Bewusstsein von Erinnerungsorten in Abhängigkeit von räumlicher (und zeitlicher) Distanz zum Lerninhalt gemacht würde. So könnte in Bezug auf dieses Konzept nach Identitätsbildungen gefragt werden (z.B. Bedeutungswahrnehmung des Berg Isel / Heldenplatz / Straßennamen– lokal – regional – global).
Als eine echte Expansion der subjektiven Perspektive ist der Wahrnehmungsraum zu werten. Wardenga spricht davon, dass mittels dieser Kategorisierung „Räume“ als Anschauungsformen betrachtet werden, mit deren Hilfe Individuen und Institutionen ihre Sinneswahrnehmungen einordnen und so Welt über ihre Handlungen räumlich differenzieren (2002, S.5). Entscheidend dabei ist, dass es für Individuen den real existierenden Raum so nicht gibt, sondern die Wahrnehmungsorientierung des einzelnen handlungsleitende Funktion erhält. Das heißt, individuelle Erfahrung und Sozialisation spielen ebenso eine Rolle wie erworbenes Wissen, aber auch individuelle Interessen, Ansprüche, Wünsche und anderes mehr. Der Wahrnehmungsraum präsentiert sich somit als Produkt differenzierter selektiver Bewertung und diese führt letztlich auch zur Entscheidung des Individuums, einen Ort als politisch und historisch bedeutsam oder belanglos anzusehen.
Einem Unterricht, der sich dieser „räumlichen“ Perspektive bedient, sind Lernprozesse immanent, die in der Lage sind, Schüler/innen über sich selbst aufzuklären. Stellen Sie sich vor, Sie initiieren einen Lernprozess, der darauf abzielt, SchülerInnen zu einer bewussten Einschätzung ihrer Identitätsempfindungen zu motivieren und bieten als Entscheidungsgrundlage eine Reihe von neuen Informationen an, die das Wahrnehmungsspektrum verändern. Die Frage an die SchülerInnen könnte wie folgt lauten: Seid ihr bereit unter dem Aspekt neuer Informationen eure bisherigen Haltungen bzw. „Raumeinschätzungen“ zu überdenken?
Ein völlig andere inhaltliche Ausrichtung würde eine fachdidaktisch angeleitete Unterrichtsplanung erfahren, wenn „Raum“ den Schüler/innen so nahe gebracht wird, dass sie ihn, in der Perspektive seiner sozialen, technischen und gesellschaftlichen Konstruiertheit auffassen können (Vielhaber 1999, Wardenga 2002, 8). Das erfolgt, wenn danach gefragt wird, wer unter welchen Bedingungen und aus welchen Interessen wie über bestimmte Räume kommuniziert und sie durch alltägliches Handeln fortlaufend produziert und reproduziert. Im Gegensatz zu den bisherigen Überlegungen ginge es vor allem um eine Bewusstseinsbildung, die darauf abzielt, Raum als Element von Handlung und Kommunikation zu fassen. Nicht die Verortungen von Handlungen oder Kommunikationen im Raum stehen im Zentrum des schulischen Vermittlungsinteresses, als vielmehr der Aspekt der sozialen Konstruiertheit von Räumen.
Wardenga spricht in ihrer Abhandlung über die unterschiedlichen Raumkonzepte davon, dass gerade der zuletzt vorgestellten konstruktivistischen Perspektive ein hoher Aufklärungsgehalt immanent ist. Überall dort, wo einer raumbezogenen Sprache eine hohe Bedeutung zukommt könnten räumliche Präsentationen als das dargestellt werden, was sie letztlich sind: An Interessen gebundene Konstrukte, die ganz bewusst auf Ganzheitlichkeit verzichten, dafür aber umso mehr danach ausgerichtet sind, den Erwartungen einer bestimmten Klientel zu entsprechen.
Gehen wir nun einen Schritt weiter und fragen uns, wo das Aufklärungspotential dieses Ansatzes für den Problembereich: Öffentlicher Raum – Mensch liegt. Damit sind wir unmittelbar mit der Alltagssituation konfrontiert, dass jede Darstellung eines ́Raumes ́ bzw. einer Region bestimmte Absichten verfolgt. In dem einen wie in dem anderen Fall, werden ́Räume ́ gemacht – sie existieren nicht einfach per se, sondern werden als Produkte spezifischer Interessen an die diversen Adressaten über mannigfache Kommunikationskanäle verschickt.
Eines sollte aus den bisherigen Ausführungen bereits deutlich geworden sein, nämlich dass je nach dem zu Grunde gelegten räumlichen Bezugskonzept auch die Problemorientierung selbst und damit auch die spezifischen Fragestellungen in unterschiedlicher Weise die Unterrichtsplanung beeinflussen. Das heißt, die Konzepte „raumbezogener“ Überlegungen bestimmen nicht nur die Inhalte eines Lernprozesses, sondern auch die Richtung, in die sich dieser bewegt.
Der kompetente Bezug auf diese Überlegungen macht unterrichtliche Vermittlungsabsichten erst wirklich transparent, nachvollziehbar und ermöglicht zudem klare Antworten auf die Frage, wie diese im Sinne nachhaltiger Bildung umgesetzt werden können.
Eines haben die bisher vorgestellten Ansätzen klar gezeigt, Raum ist nicht gleich Raum – das gilt sowohl für die Maßstabsebenen sowie für die Funktionsebene. Das Produkt aus den unterschiedlichen Zugängen ist ein Spektrum verschiedener Betrachtungsmöglichkeiten eines Raumes. Es sollte aber auch nicht vergessen werden, dass Räume in ihrer gesellschaftlichen Präsenz von der Vergangenheit bis in die Gegenwart durchwirken, und das umfassend zu analysieren ist im Schulalltag nur selten wirklich umsetzbar. Allerdings stellt die Komplexität eines Problems so lange kein didaktisches Problem dar, solange das zentrale Ziel nicht aus den Augen verloren wird, nämlich die Schüler/innen zu befähigen, selbstbestimmt „Raumkritik“ äußern zu können, um sich so traditionellen Mythen- und Klischeebildungen zu entziehen. Die Differenzierung unterschiedlicher Typen von Raumdimensionen auf der Maßstabs- und Funktionsebene könnte jedenfalls als eine Möglichkeit didaktischer Reduktion Verwendung finden.
Die Verknüpfung beispielsweise des regionalen Raumtyps mit der Perspektive „Wahrnehmungsraum“ grenzt die Bandbreite von spezifischen Erkenntnisoptionen zwar deutlich ein, schafft aber im Vergleich zu herkömmlichen Vorgangsweisen, die Raumbeispiele unreflektiert als Unterrichtsstoff präsentieren eine weit höhere Transparenz, was die Auswahl an Inhalten betrifft. Für die Legitimierung eines fachdidaktisch ausreichend begründbaren Lernprozesses reicht das aber noch nicht. Dazu bedarf es des Bezugs auf bestimmte fachdidaktische Grundlegungen, die spezifischen Vermittlungsinteressen verpflichtet sind. In der Folge werden vier Konzepte vorgestellt, die zur Bearbeitung von Raumthemen sinnvoll erscheinen. Auch sie sind im Sinne einer nachvollziehbaren didaktischen Reduktionsabsicht als Auswahloptionen verwendbar.
1.3.2 Kein Lernprozess ohne (fach)didaktische Grundlegung
Keine Fachdidaktik kommt ohne Zugriffe auf Überlegungen aus, die bereits im Bereich allgemeiner Didaktiken formuliert wurden. Um zu entscheiden, welche Didaktiken zur Planung eines Lernprozesses eigentlich unterrichtsleitend sein sollen, bedarf es im ersten Schritt einer Klarlegung der Vermittlungsinteressen: Was will ich eigentlich im Rahmen meines Unterrichts wirklich erreichen (Vielhaber 1999, 10)? Bezogen auf die gewählte Themenstellung wären wohl die Fähigkeit einer realistischen Selbsteinschätzung und ein damit verbundenes Handeln eine ebenso anstrebenswerte unterrichtliche Zielsetzung wie die Schulung des individuellen Reflexionsvermögens und zwar derart, dass das den Schüler/innen die Möglichkeit eröffnet wird, ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse als Produkte sozialisierender Effekte zu begreifen. Erst diese Fähigkeit kritischer Selbstreflexion vermag über Fremdbestimmungen aufzuklären und das Bewusstsein zu selbstbestimmtem Handeln zu unterstützen.
1.3.2.1 Das unreflektiere Vermittlungsinteresse
Im ersten Fall gilt das sogenannte unreflektierte Vermittlungsinteresse. Es beruht auf dem Wissen und der Alltagserfahrung der Lehrenden und ihrer Meinung auch ohne den Einsatz reflektierter didaktischer Überlegungen zu wissen, was lebenstauglicher Unterrichtsstoff ist. Ein entsprechender Unterricht kann durchaus animierend sein, aber eines ist er sicherlich nicht: nachvollziehbar und begründungsfähig.
1.3.2.2 Das praktische Vermittlungsinteresse
Diesbezüglich erweist sich das praktische Vermittlungsinteresse schon weit zielführender. Dabei geht es um die Qualifikation der Schülerin/ des Schülers, die sie/ihn für eine bestimmte Lebenssituation sozusagen fit macht – also ein durchaus lebenspraktischer Bildungsanspruch. Die (Fach)didaktik, die einem diesbezüglich ein unterstützendes Konzept liefert, ist die curriculare, denn ihre konzeptionelle Orientierung legt fest, dass es primär Aufgabe schulischer Bildung zu sein hat, Schüler/innen mit Qualifikationen auszustatten, die sie in die Lage versetzen, bestimmte Lebenssituationen erfolgreich zu bewältigen.
1.3.2.3 kritisch-emanzipatorisches Vermittlungsinteresse
Die dritte Position wäre jene, bei dem Reflexion und Selbstbestimmung die wesentlichen Aspekte didaktischer Zielsetzungen sind. Dabei geht das Vermittlungsinteresse über das rein praktische weit hinaus. Nicht die Bewältigung einer Lebenssituation steht zur Disposition, sondern die Aufklärung über das Zustandekommen eben dieser. Manipulative Einflussnahmen, Zwänge oder externe Machtansprüche sollen als von außen wirkende Triebfedern des eigenen Handelns erkannt werden, um sich bewusst und emanzipiert bestimmten Lebenssituation erst gar nicht auszusetzen. Nicht von ungefähr wird das Vermittlungsinteresse, das solche Absichten verfolgt, als kritisch-emanzipatorisch bezeichnet. Einen entsprechend relevanten didaktischen Bezug liefert die kritisch-konstruktive Didaktik Wolfgang Klafkis (1996).
1.3.2.4 konstruktivistisches Vermittlungsinteresse
Das konstruktivistische Vermittlungsinteresse lässt den Gedanken an standardisierte Wissensaneignung beiseite und stellt die/den Schüler/in als Konstrukteure ihrer/seiner eigenen Lebenswelten in den Vordergrund. Die Fremdzuschreibungen von Räumen, was deren Bedeutungen und Wertigkeiten betrifft, werden zu Gunsten sehr persönlicher „Raumauseinandersetzungen“ und Raumbewertungen aufgegeben. Das Ergebnis der individuellen Auseinandersetzung mit Räumen kann aber immer nur ein Produkt von Eigenerfahrungen und dem Ausschöpfen verfügbarer Quellen sein, und muss sich als solches auch der Konfrontation mit den Ergebnissen anderer stellen, will es ernst genommen werden.
Wir haben nun eine Reihe von didaktischen Überlegungen diskutiert, die alle einen Zweck verfolgen: Wie lässt sich ein politisch bildender Unterricht begründen, in dem es um „Räume“ geht? Im konkreten Verlauf einer Unterrichtsplanung könnte also ein gewählter Raumtyp auf der Maßstabsebene mit einem bestimmten Typ der Funktionsebene verknüpft werden und dann über eines der vier angebotenen didaktischen Konzepte – die bestimmte Vermittlungsinteressen erkennen lassen – in einen Lernprozess übergeleitet werden. Diese Vorgangsweise wäre, was die Organisation eines Lernprozesses und die Legitimation einer inhaltlichen Auswahl betrifft, als ziemlich begründungsstark anzusehen.
1.3.3 Ausgewählte inhaltliche Problemperspektiven im Zusammenhang mit öffentlichen Räumen
Diese Komponente stellt die inhaltliche Problemperspektive dar. Diese wird zwar bereits durch den gewählten Raumtyp der Maßstabsebene und jenem der Funktionsebene in gewisser Weise vorbestimmt, die inhaltliche Schwerpunktsetzung bzw. die Problemausrichtung wird aber von der/dem Lehrenden bzw. vom Lehr-Lernverbund vorgenommen. Hilfreich können bei der Problemorientierung persönliche Erfahrungen, Konfrontationen, aber auch Vorgaben didaktischer Modelle im Hinblick auf Lebenssituationen und Schlüsselprobleme sein. Die nachfolgende Problemauflistung ist rein willkürlich und dient nur als Sammelpool möglicher interessanter Fragestellungen, die jederzeit individuell bereichert und ergänzt werden können.
1.4 Schlussbemerkung
Eine ganz wichtige Bemerkung zum Abschluss dieser Einführung: Die Reihenfolge der vorgeschlagenen Kriterien zur (fach)didaktischen Reduktion kann von den Lehrpersonen oder der Lehr-Lerngruppe in völliger Autonomie auch selbst bestimmt werden. Die hier vorgenommene Anordnung hat keinerlei verbindlichen Charakter. So ist es keineswegs ein „Muss“ den Lernprozess vom gewählten Raumtyp der Maßstabsebene seinen Ausgang nehmen zu lassen. Der primäre didaktische Zugang kann ebenso gut über ein erkanntes Problem gewählt werden, dem anschließend eine entsprechende „Raumsuche“ folgt. Wichtig erscheint aber allemal, dass – wenn möglich – der gewählte Raum für Schüler/innen auch als Lernort erfahr- und erlebbar wird.
dgpb © Friedrich Öhl, Christian Vielhaber